Streitfrage: Ist der Karadzic-Prozess eine Warnung für Kriegsverbrecher?
Programmiertes Fiasko
Von Germinal Civikov
»Himmler des Balkans« – so titelte »Der Standard« aus Wien seinen Kommentar zur Eröffnung des Prozesses gegen Radovan Karadzic. Heinrich Himmler, »Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums«, betrieb die »Eindeutschung« der besetzten polnischen Gebiete durch Vertreibung und Vernichtung von Polen und Juden. Genauso habe es auch der Präsident der bosnischen Serben getrieben, meint wohl der Autor und zieht dann einen weiteren historischen Vergleich: Die Belagerung von Sarajewo durch die bosnischen Serben habe länger gedauert als die Blockade Leningrads durch die Deutschen. Schlimmer als die Deutschen wüteten also die bosnischen Serben mit ihrem Himmler an der Spitze.
Damit sind wir beim vertrauten Medienbild vom blutigen Untergang Jugoslawiens: Wie Himmler im Auftrag des Reichskanzlers Adolf Hitler in Polen, so auch Karadzic in Bosnien im Auftrag des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic. Diesen nannten die Medien »Hitler des Balkans«. Mit ihren Hitler und Himmler an der Spitze haben also die Serben die anderen jugoslawische Völker angegriffen, Vernichtungslager betrieben und einen Völkermord begangen. Immer wieder kann man sich wundern, wie erfolgreich dieses Bild im öffentlichen Bewusstsein verankert wurde.
Das Jugoslawien-Tribunal hat es sich scheinbar vorgenommen, dieses Medienbild strafrechtlich zu beweisen. Der Prozess gegen den Politiker Vojslav Seselj entwickelte sich schnell zu einem kompletten Fiasko für die Anklage. Nun sitzt Seselj schon acht Jahre in Haft, Richter und Ankläger sind ratlos und Medienberichte zu diesem Skandal gibt es überhaupt keine.
Liest man die Anklageschrift gegen Radovan Karadzic, so ist eine ähnliche Entwicklung seines Prozesses programmiert. Auf Drängen der Richter wurde die Anklage mehrmals umgeschrieben und gestrafft: Die Zahl der Gemeinden, in denen man Karadzic Kriegsverbrechen und Völkermord zur Last legt, ist von 41 auf 27 geschrumpft, von 450 Zeugen blieben 159. Hätte man gute Beweise, dürften zur Verurteilung auch 10 Zeugen ausreichen. Will man allerdings das in die Welt gesetzte Medienbild strafrechtlich bestätigen, dann reichen auch 1000 Zeugen nicht.
Wie im Milosevic-Prozess werden nun wieder alle erdenklichen Kriegsverbrechen zur Schau geführt, ganz hoch oben prangert Völkermord, nun aber in einer erweiterten Fassung. Als Völkermord galten bisher, problematisch genug, nur die immer noch nicht aufgeklärten Massenmorde von Srebrenica im Juli 1995. Die Anklage will nun aus dieser örtlichen und zeitlichen Einschränkung herausbrechen. Alle von bosnischen Serben begangenen Kriegsverbrechen sollen als Völkermord gelten. Auch die Vertreibung und Inhaftierung der bosnischen Muslime wird als Völkermord aufgewertet, weil man damit ihre Vernichtung als Volksgemeinschaft herbeiführen wollte. Sollte die Anklage damit Erfolg haben, würde man anerkennen, dass die bosnischen Muslime als Volksgruppe während des Krieges Opfer eines Völkermords gewesen sind. Zwei Dokumente scheinen mir diesem Anliegen der Anklage im Weg zu stehen: der »Bosnische Atlas der Kriegsverbrechen« und das Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) von 2007 in der Klage Bosniens gegen Serbien wegen Völkermordes.
In dem »Atlas« werden namentlich alle 97 207 im Krieg getöteten muslimischen, serbischen und kroatischen Zivilisten und Soldaten genannt. Nach dieser neuesten Ermittlung der Opferzahl gibt es also keine 250 000 bis 300 000 muslimischen Opfer, wie es uns die Medien vorgehalten haben. Das Bild ändert sich zusätzlich, wenn man die Zahl der Kriegsopfer in Relation zu deren Bevölkerungsanteil bringt. Die Muslime, 44 Prozent der Bevölkerung, haben 66 Prozent der Opfer zu beklagen. Die Serben, 31 Prozent der Bevölkerung, stellen 26 Prozent der Opfer. Die übrigen 8 Prozent der Opfer sind Kroaten, die einen Bevölkerungsanteil von 17 Prozent hatten. Die Zahl der im Krieg getöteten und verschollenen Muslime beläuft sich auf etwa 64 000. In Relation zu ihrem Bevölkerungsanteil haben also die Muslime mehr als doppelt so viel Opfer zu beklagen als die Serben. Dies lässt sich aber z. T. dadurch erklären, dass die bosnischen Muslime auch mit-einander gekämpft und dass sie mit den Kroaten Krieg geführt haben. Nicht alle Opfer auf muslimischer Seite haben also die bosnischen Serben zu verantworten. Alle drei Bevölkerungsgruppen haben sich Schreckliches angetan und eine herausragende Mordlust der bosnischen Serben ist nicht zu erkennen.
Am 26. Februar 2007 wies der IGH die Klage Bosniens und Herzegowinas gegen Serbien wegen Völkermordes im Bosnien-Krieg ab. Zwar hat der IGH das Urteil des Jugoslawien-Tribunals übernommen, wonach es in Srebrenica 1995 einen Völkermord an den bosnischen Muslimen gegeben hat. Serbien wurde zwar gerügt, nicht alles unternommen zu haben, um diesen Völkermord zu verhindern, wurde aber freigesprochen, am Kriegsgeschehen in Bosnien beteiligt gewesen zu sein.
Konsequenzen dürfte dieses Urteil auch für die Völkermord-Anklage im Karadzic-Prozess haben. Die meisten der Orte, die in der Anklage als Orte eines Völkermords Erwähnung finden, waren schon in der abgelehnten Klage Bosniens gegen Serbien angeführt. Nach Prüfung der Beweise haben die Richter des IGH jeweils den Tatbestand eines Völkermordes in diesen Orten zurückgewiesen. Auch für die Beschießung von Sarajewo lehnten sie den Tatbestand eines Völkermords ab. Die Anklage gegen Karadzic bewertet »ethnische Säuberungen« in weiteren von den Serben beanspruchten Gebieten ebenso als Völkermord. Auch das gab es aber schon in der Klage Bosniens vor dem IGH, und die Richter haben es resolut abgelehnt, »ethnic cleansing« als Völkermord zu bewerten.
Es scheint, als stört es die Ankläger des Jugoslawien-Tribunals nicht, wie der IGH bereits entschieden hat. Sie haben zum Zwecke des Karadzic-Prozesses die vom IGH bereits abgelehnte Klage Bosniens gegen Serbien wegen Völkermordes einfach umgeschrieben. Und voraussichtlich werden sie mit ihr vor den Richtern des Jugoslawien-Tribunals Erfolg haben. Denn Himmler muss hängen.
Germinal Civikov, 1945 in Russe (Bulgarien) geboren, ist Journalist und Literaturwissenschaftler. Seit 1975 lebt er im niederländischen Den Haag, von wo aus er jahrelang für die »Deutsche Welle« tätig war. Germinal Civikov hat die Prozesse vor dem Haager Jugoslawien-Tribunal genau verfolgt. Im Wiener Promedia Verlag sind von ihm »Der Milosevic-Prozess. Bericht eines Beobachters« und »Srebrenica. Der Kronzeuge« erschienen.
Historischer Moment
Von Mirela Grünther-Decevic
Am 26. Oktober 2009 begann vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien (ICTY) offiziell der Prozess gegen Radovan Karadzic. Der ehemalige Präsident der bosnischen Teilentität Republika Srpska und Oberbefehlshaber der Armee der Republika Srpska wurde am 21. Juli 2008 in Belgrad, wo er unter dem Namen Dragan Dabic als Heilpraktiker arbeitete, verhaftet und nach Den Haag überführt. Die Anklagepunkte lauten Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie schwerer Verstoß gegen die Genfer Konvention und Zuwiderhandlung gegen das Kriegs- und Gewohnheitsrecht in Bosnien-Herzegowina für den Zeitraum 1992 bis 1995.
In seiner Eröffnungsrede sagte der Staatsanwalt des ICTY Alan Tiger: »Karadzic ist verantwortlich für eine der schwärzesten Epochen, in der die bosnischen Muslime aus Srebrenica eliminiert und Ostbosnien von ihnen gesäubert wurde. Karadzic wurde von verschiedenen Quellen darüber informiert, hatte direkten Kontakt zu Mladic, wusste also, dass die Bevölkerung vertrieben, dass Menschen umgebracht wurden (…). Er aber vertuschte die Morde und tut dies auch heute noch. Das Einzige, was er bereut, ist, dass einige Muslime fliehen konnten.«
Der Prozessauftakt gegen Karadzic erinnert an den von Jugoslawiens Ex-Präsidenten Slobodan Milosevic im Jahr 2002. Die Strategie scheint die gleiche zu sein: das ICTY nicht anzuerkennen und das Verfahren in die Länge zu ziehen. Was bedeutet dies aber für die Opfer des Bosnien-Krieges? Allein 160 von ihnen aus verschiedenen Opfer-Vereinigungen haben sich am Tag des Prozessauftaktes im Oktober 2009 vor dem ICTY-Gebäude in Den Haag eingefunden. Für sie muss die endlich stattfindende Strafverfolgung von Karadzic eine persönliche Genugtuung sein. Als Karadzic am 26. Oktober nicht im Gerichtsaal erschien, konnten sie ihre Enttäuschung nicht verbergen. Nicht so sehr wegen Karadzic selbst – mit einer »Showeinlage« von ihm hat man fast rechnen müssen –, sondern wegen des ICTY und seines Regelwerks. Auch Milosevic hatte es damals geschafft, das Verfahren in die Länge zu ziehen und hatte sich selbst verteidigt. Am 11. März 2006 wurde Milosevic tot in seiner Zelle in Scheweningen aufgefunden. Somit ist der angeklagte Milosevic nie verurteilt worden. Genau das, befürchten die Opfer des Bosnien-Krieges, könnte auch im Fall Karadzic passieren.
Das ICTY unternahm am 1. März 2010 einen erneuten Anlauf, den Prozess gegen Radovan Karadzic fortzuführen. Auch beim zweiten Anlauf hatte die Boykott-Strategie von Karadzic Erfolg. Er forderte mehr Zeit, um sich auf seine Verteidigung vorzubereiten. Der Prozess wird seit Dienstag dieser Woche fortgesetzt.
Obwohl der Prozessauftakt gegen Radovan Karadzic sicherlich als historischer Moment angesehen werden kann, hat er zugleich einen bitteren Beigeschmack: vor allem wegen der Tatsache, dass der ehemalige General der Armee der Republika Srpska, Ratko Mladic, den das ICTY u. a. wegen des Völkermords in Srebrenica anklagt, immer noch auf freiem Fuß ist. Der Prozess fiel zudem mit der frühzeitigen Entlassung von Biljana Plavsic zusammen. Karadzics Nachfolgerin als Präsidentin der Republika Srpska war 2002 vom ICTY zu elf Jahren Haft wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit verurteilt worden. Plavsic hatte zunächst die ihr zur Last geworfenen Kriegsverbrechen bestritten, bekannte sich aber nach einer Abmachung mit dem ICTY für schuldig und zeigte öffentlich Reue. Daraufhin verurteilte das ICTY sie für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ließ die Anklagen wegen Genozid fallen.
Biljana Plavsic, die während ihrer Haftzeit im Herbst 2008 in einem Interview für eine schwedische Zeitschrift ihr Geständnis widerrief und zugab, dass sie offiziell nur Reue bekundet hatte, um eine Strafmilderung zu bekommen, verbüßte zwei Drittel ihrer Freiheitsstrafe in Schweden. Am 27. Oktober 2009, nach ihrer Freilassung, wurde sie in Belgrad vom Premierminister der Republika Srpska, Milorad Dodik, herzlichst empfangen. Anscheinend greifen die ICTY-Urteile nur bis zur Balkan-Grenze, wo verurteilte Kriegsverbrecher zu Helden werden. Plavsic ist kein Einzelfall. Und genau deshalb ist der Karadzic-Prozess so wichtig, weil er vielleicht die letzte Chance ist, den regionalen Bezug des Krieges in Bosnien-Herzegowina juristisch aufzuarbeiten, insbesondere die ideologische, militärische und politische Rolle Serbiens. Genau dies ist wegen des fehlenden Schuldspruchs im Fall Milosevic nicht möglich gewesen.
Welche Rolle kommt dem ICTY dabei zu? Das ICTY allein kann nicht für Gerechtigkeit sorgen. Die internationale Strafgerichtsbarkeit aber kann einen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte in einer Region leisten, in der das Völkerrecht verletzt wurde. Auch kann das Gericht im konkreten Einzelfall die individuelle Schuld und Verantwortung feststellen mit dem Ziel der Wiederherstellung des Rechts. Dennoch, die Arbeit des ICTY ist zeitlich und finanziell begrenzt. Die Gerechtigkeit hängt somit vom politischen Willen und den finanziellen Möglichkeiten der Geber-Staaten ab.
Für Bosnien-Herzegowina und für die gesamte Region sind die ICTY-Urteile und die damit einhergehenden Beweismittel von besonderer Bedeutung für die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit, die bis heute unzulänglich ist. Trotz aller Schwerfälligkeiten des ICTY muss man ihm zugute halten, dass es zu positiven Entwicklungen in der Region beigetragen hat. Die Aussagen, die in den Urteilen wiederzufinden sind, werden eine Geschichtsfälschungen weitgehend erschweren. Dennoch, juristische Feststellungen allein können die so dringend notwendige gesellschaftliche und politische Aufarbeitung nicht ersetzen. Das zeigen nicht zuletzt die Aus-einandersetzungen um die im serbischen Parlament verabschiedete Srebrenica-Deklaration und deren Aufnahme in der serbischen Öffentlichkeit in den letzten Tagen. Es bleibt ein langer Weg, bis alle Verbrechen aufgeklärt, alle Rechtsverletzungen durch die Täter zumindest anerkannt und – auch im gesamteuropäischen Interesse – die Stabilität in der Region wiederhergestellt ist.
Mirela Grünther-Decevic, Jahrgang 1970, leitet seit 2006 das Länderbüro für Bosnien-Herzegowina der Heinrich Böll Stiftung in Sarajevo. Sie war mehrere Jahre für die Internationale Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina tätig. Schwerpunkte ihrer Arbeit waren u. a. die Stärkung der Zivilgesellschaft sowie die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit und Medienarbeit in Südosteuropa.
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