»Ich war wieder zu Hause.«
Wolfgang Leonhard über sein sowjetisches Exil, seine Rückkehr nach Deutschland und den 8. Mai 1945
ND: Sie sind ein Kind des Sowjetexils. Wie stark hat dieses Ihren weiteren Lebensweg geprägt?
Leonhard: Das hat mich total geprägt. Zunächst bin ich von meiner Mutter im Herbst 1933 nach Schweden geschickt worden. Dort besuchte ich ein Landschulheim. Meine Mutter arbeitete noch bis 1935 illegal in Berlin. Da ihre antifaschistische Gruppe aber aufgeflogen war, es etliche Verhaftungen gab und die Gestapo auch nach meiner Mutter fahndete, ist sie zu mir gekommen. Aber in Schweden konnten wir nicht bleiben, weil meine Mutter keine Aufenthaltsgenehmigung und so auch keine Arbeit erhielt.
Und da blieb nur noch die Sow-jetunion als Zufluchtsort?
Das war meine Entscheidung. Meine Mutter fragte mich: Wollen wir nach England oder in die Sow-jetunion emigrieren? Als Junger Pionier antwortete ich freudig: in die Sowjetunion. Ich war damals 13. Und ich konnte nicht ahnen, dass meine Mutter bereits anderthalb Jahre später vom NKWD verhaftet, zwölf Jahre im Lager und in der Verbannung zubringen würde.
Fühlen Sie sich deshalb in gewisser Weise schuldig?
Natürlich nicht. Wie konnte ich ahnen, was meine Mutter erleben musste! Niemand, keiner von den Politemigranten aus Deutschland und anderen europäischen Ländern hat ahnen können, dass Stalin einen solchen Terror gegen die eigenen Leute entfachen würde.
Was empfanden Sie, als Sie in die Sowjetunion reisten?
Ich war sehr aufgeregt. Wir sind über Finnland in die Sowjetunion gereist. An der Grenze habe ich den ersten Rotarmisten in meinem Leben gesehen. Der hat mich schwer beeindruckt. Wir stiegen um, in den Zug nach Leningrad. Wir hatten einige Stunden Aufenthalt, dann ging's nach Moskau.
Und dort besuchten Sie die berühmte Karl-Liebknecht-Schule.
Ja. Am Haupteingang prangte die berühmte Losung von Lenin: »Lernen, lernen und nochmals lernen!« Meine Mitschüler waren unter anderem Markus Wolf und Stefan Doernberg.
Im Jahr darauf kam ich in das Kinderheim Nr. 6, das Heim der Schutzbundkinder. Der Schutzbund war eine paramilitärische Organisation der österreichischen Sozialdemokratischen Partei ...
...die 1934 einen bewaffneten antifaschistischen Abwehrkampf in Österreich wagte.
Dabei sind 200 Schutzbündler getötet worden. Deren Kinder kamen in die Sowjetunion. Und viele Schutzbündler selber auch. Ich verlebte im Moskauer Kinderheim Nr. 6 eine glückliche Zeit. Die Lehrer waren freundlich, unsere Wünsche wurden erfüllt, es ging uns gut. Klar, wir waren privilegiert.
Und Ihre Mutter?
Meine Mutter bewohnte in Moskau ein Zimmer in einer kleinen Wohnung in einem alten Haus in der Nähe des Nikitskij-Tors. Sie lebte in einer damals üblichen Kommunalnaja, mit anderen Menschen zusammen. Ein oder zwei Mal wöchentlich traf ich mich mit ihr, irgendwo in der Stadt. Einmal jedoch kam sie nicht zum verabredeten Treff. Da beschloss ich, zu ihr nach Hause zu gehen. Ich klingelte. Ein Mitbewohner öffnete. Und da sah ich, dass die Tür an ihrer Stube versiegelt war. Ich sagte zu diesem Mitbewohner: »Ich möchte zu meiner Mutter.« Der sagte: »Deine Mutter ist hier nicht mehr.« Ich fragte: »Wo ist sie denn?« Er brummte nur: »Weg!« Wochen vergingen. Immer wieder habe ich das Haus aufgesucht. Bis man mir sagte: »Deine Mutter hat sicher einen wichtigen Auftrag.« Und so fragte ich nicht mehr.
Sie haben es geglaubt?
Ich habe es glauben wollen.
Obwohl der Stalinsche Verhaftungswahn auch die Karl-Liebknecht-Schule nicht aussparte?
Ja, das kam sehr bald. Aber wir, auch jene, deren Eltern verhaftet waren, glaubten, dass es sich um Missverständnisse, Irrtümer oder Überspitzungen innerhalb von an sich doch notwendigen Maßnahmen angesichts der Bedrohung durch den Faschismus in Deutschland und den Antikommunismus im Westen handele.
Ab der 7. Klasse habe ich eine russische Schule besucht. Dort gab es ab der 8. Klasse Militärkunde; zwei Mal wöchentlich hatten wir das Fach »Wojennoje delo«. Wir waren bereit, die Sowjetunion bei einem Angriff zu verteidigen. Die Sowjetunion war mehr und mehr unsere eigentliche Heimat geworden, mit ihr war all unser Denken und Fühlen verbunden.
Und was haben Sie gedacht, als dann der sogenannte Hitler-Stalin-Pakt geschlossen wurde?
Den Sommer 1939 verbrachten wir in Jejsk am Asowschen Meer. Dort gab es eine Marinekriegschule. Mitte August wurde zu einer großen Feier im großen Kulturpalast eingeladen. Der Referent klagte scharf Hitlerdeutschland an und lobte unsere Eltern, deutsche und österreichische Antifaschisten, die schon früh den Kampf gegen den Faschismus aufgenommen haben. Drei Tage später wurde unser Politleiter Igor in die Stadt gerufen. Wir erholten uns am Meer. Er kam aufgeregt zurück und rief uns zu: »Wir haben einen Nichtangriffspakt mit Deutschland geschlossen.« Wir konnten es nicht fassen.
Wir waren ja politisch interessiert, verfolgten die Nachrichten und wussten, dass sich Stalin um einen Bündnis mit England und Frankreich bemühte. Wir wussten, dass es Schwierigkeiten gab, aber wir waren fest davon überzeugt, dass dieses Bündnis zustande käme. Es gab keinen Hinweis, dass dazu überhaupt eine Alternative bestünde. Nun aber das! Wir waren fassungslos.
Der 23. August war ein Schock.
Die totalste Überraschung. Vor dem 23. August 1939 hatte Litwinow, der damalige Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten als Ziel verkündet: Kollektive Sicherheit, alle Länder der Welt sollten zusammenstehen gegen den Hitler-Faschismus. In diesem Geist sind wir erzogen worden. Und plötzlich kommt Joachim von Ribbentrop, der Reichsaußenminister Hitler-Deutschlands, landet auf dem Moskauer Flugplatz. Und der Flugplatz ist mit Fahnen übersät, Hakenkreuzfahne, Sowjetfahne, Hakenkreuzfahne, Sowjetfahne. Noch am selben Tag, in der Nacht, wurde der Vertrag unterzeichnet. In allen Sowjetzeitungen wurde der Toast Stalins gedruckt: »Ich weiß, wie sehr das deutsche Volk seinen Führer liebt und ich möchte daher auf den Führer trinken, einen Toast aussprechen.« Das stand in der Sowjetpresse. Das war für alle ein riesiger Schock.
Was für Konsequenzen hatte dies im gesellschaftlichen Leben?
Bereits am nächsten Tag waren aus dem Stadtbild antifaschistische Plakate verschwunden. In den Kinos wurden Filme wie »Professor Mamlock« nach Friedrich Wolf und Lion Feuchtwangers »Die Geschwister Oppenheim« abgesetzt. Theaterstücke mit antifaschistischem Inhalt wurden nicht mehr gespielt, sogar das Drama »Die Matrosen von Catarro« nicht mehr, das an den Matrosenaufstand von 1918 gegen die k.u.k.-Monarchie erinnert. Das war schizophren.
Antifaschistische Literatur wurde aus den Bibliotheken entfernt, darunter auch alle Emigranten-Bücher, von Thomas und Heinrich Mann, Stefan Zweig, Anna Seghers... Und eine Woche später, ich traute meinen Augen nicht, lagen plötzlich Nazi-Zeitungen in der Bibliothek für ausländische Literatur in Moskau aus. Auch das Wort »Faschismus« verschwand aus dem Sprachgebrauch. Der Hitler-Stalin-Pakt wird stets außenpolitisch diskutiert. Er war aber auch innenpolitisch folgenreich. Er hat große Irritation nicht nur bei uns Emigranten, sondern unter allen Sowjetbürgern ausgelöst.
Aber dann kam der 21. Juni 1941.
Und das ganze Land raffte sich auf. Stalin hat sich zwei, drei Tage verkrochen. Aber die einfachen Sowjetbürger nicht. Legendär ist ja der Kampf der Verteidiger von Brest-Litowsk. Da Stalin aber 1937 die Rote Armee buchstäblich enthauptet hatte, war es für Hitler anfangs leichtes Spiel. Den raschen Vormarsch der deutschen Wehrmacht miterleben zu müssen, war für uns sehr bitter und schmerzlich. Wir waren bereit, die Waffe in die Hand zu nehmen.
Aber Sie wurden wie tausende andere Deutsche umgesiedelt.
Ja, Ende September 1941 nach Kasachstan. Doch ich konnte das Lehrerinstitut in Karaganda besuchen. Und ein Jahr später wurde ich an die Schule der Komintern in Kuschnarenkowo delegiert. Aber die wurde geschlossen, als Stalin im Juni 1943 die Kommunistische Internationale auflöste. Mittlerweile war das Bündnis mit den Westmächten, die Antihitlerkoalition, zustande gekommen. Da störte ihn die Komintern nur. Ich habe dann als Sprecher für den Sender des Nationalkomitees »Freies Deutschland« gearbeitet.
Sie sind mit der Gruppe von Walter Ulbricht am 30. April 1945 nach Deutschland zurückgekehrt. Welchen Eindruck machte Ulbricht auf Sie?
Er war sehr, sehr fleißig. Er hat ständig Dokumente durchgelesen, mehr als die anderen Mitglieder des Politbüros der KPD. Er hat sehr hart gearbeitet und hatte einen Vorsprung in Sachkenntnis gegenüber den anderen. Ulbricht hatte ein unglaubliches Gedächtnis, vor allem Personalgedächtnis. Und er konnte sich absolut auf eine Aufgabe konzentrieren. Ich habe ja von Ende April bis Ende Juli 1945 von früh bis abends mit ihm zusammengearbeitet. Er war aber eben auch ein Machtmensch, ein Pragmatiker und Taktiker. Und er ließ andere Menschen nicht zu nahe an sich herankommen, wahrte die Distanz. Ich glaube, er war sehr misstrauisch. Und er war eben stalinistischer als andere.
Welche Bedeutung hat der 8. Mai 1945 für Sie?
Ich war wieder zu Hause. Deutschland, meine Heimat, ist von den furchtbaren Nazis befreit worden. Das deutsche Volk hat die Chance für einen Neuanfang erhalten. Ein schwieriger Weg stand den Deutschen bevor.
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