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Der blinde Fleck
»Störfall« von Christa Wolf
So viele Bücher gelesen, »verdaut« und aus dem »Arbeitsspeicher« gelöscht. Aber nicht »Störfall« von Christa Wolf! Merkwürdig, wie viele Bilder daraus mir seit Jahrzehnten vor Augen sind: wie das vom lustvollen Jäten der Bennnesseln (immer im Garten fällt mir's ein) oder dass Samen aufgegangen sind als grandioses Hoffnungszeichen. Zitate, die ich ohne nachzuschlagen wiedergeben kann: »Die kleinen Jungs ... Was sie mit denen anstellen müssen, um sie hart zu kriegen.« – »Gesucht und zugleich geflohen wird der Punkt des stärksten Schmerzes.« – »Der Mensch will starke Gefühle erleben, und er will geliebt werden. Punktum.« – »Ich könnte mein Leben beschreiben ... als eine Folge von Eintrübungen durch immer dichtere Schatten ... als fortlaufende Gewöhnung an härtere Beleuchtungen ...« – »Die Echse in uns schlägt mit dem Schwanz.«
Bei Christa Wolf habe ich formuliert gefunden, was meine Auffassung von literarischer Wirkung war, bevor ich es hätte auf den Begriff bringen können: »Da habe ich endlich einmal wieder jenen Schlag gegen mein Herz gespürt, den ich nur dann spüre, wenn ein Schreiber aus der Tiefe seiner Selbsterfahrung zu mir spricht.« Seitdem gehe ich in Bücher durch die leuchtenden, die brennenden Sätze hinein. Und schließlich: »Der blinde Fleck«. Was das wohl war? Tiefstes Geheimnis? Schmerzpunkt des Unterbewussten? Wohlweisliche Wahrnehmungslücke? Geniale Bezeichnung für etwas, was sich der Erkenntnis sperrt, sie narrt.
Mir ist eine Veranstaltung mit Volkspolizisten in Erinnerungen, die über dieses Buch empört waren. Den sehr starken, heute für mich sogar dominierenden Handlungsstrang von der Hirnoperation des Bruders nahmen sie kaum wahr. Völlig überzogen – einer sagte »hysterisch« – fanden sie die angstvolle Reaktion der Ich-Erzählerin auf das Reaktorunglück in Tschernobyl. Dass in dieses abwehrende Urteil »pädagogische Gesichtspunkte« mit hineinspielten, war klar. Die DDR setzte doch auch – dem Ressourcenmangel geschuldet – auf »friedliche Nutzung der Kernenergie«. Die entsprechende Technik kam aus der Sowjetunion. Wenngleich nach der Katastrophe fieberhaft an Sicherheitsvorkehrungen gearbeitet wurde, machten das die Machthabenden mit den Experten lieber hinter verschlossenen Türen aus. Als »Störfall« galt ebenso wie das Versagen der Technik eine mögliche Einmischung der Bevölkerung. So wie Friedrich Wilhelm Graf von der Schulenburg 1806 den Berlinern die Niederlagen von Jena und Auerstädt kund gab: »Die erste Bürgerpflicht ist Ruhe.« – Die Vorstellung von »Vater Staat« und der Bevölkerung als Kinder: Auch davon handelt »Störfall« von Christa Wolf.
Dass es im Buch um alles und jedes geht, wird mir heute umso mehr bewusst. Ein Essay in Romanform über die Befindlichkeit der Autorin in der Welt. Während offiziell immer noch die Losung »Vom Ich zum Wir« bekräftigt wurde, behauptete Christa Wolf den Wert des Subjektiven, das der Ideologie nur etwas Ungenügendes, Untergeordnetes war. Entsprechend gerierte sich persönliche Entscheidungsmacht als kollektiv, gesellschaftlich, objektiv begründet. Dem entgegengesetzt das selbstbewusste Ich bei Christa Wolf: eine Frau, die, was immer sie tut, ihre Sorge nicht abschütteln kann – um den Bruder, dem sie das Gehirn öffnen, um Töchter und Enkel, die von Radioaktivität betroffen sein können, der dabei vielerlei durch den Kopf geht, was sie nicht filtert, bevor sie es äußert, und die kein Problem damit hat, dass man ihr vielleicht widerspricht. Nicht mächtig ist sie und deshalb frei.
»Ich habe erlebt, daß es auch die Freiheit gibt, jeglichen Gehorsam aufzukündigen, sogar den, den ich den selbsterlebten Pflichten schulde.« – Damals, 1987, war ich der Ich-Erzählerin vor allem dankbar, dass sie meine Ängste, Unsicherheiten, Fragen spiegelte; an ihre Radikalität reichte ich nicht heran, deshalb überlas ich solche Sätze. Denn wir nehmen nur wahr, was wir können und wollen. Der »blinde Fleck« – das, was uns überfordern, hilflos machen würde? Insofern wäre Eingeständnis von Hilflosigkeit ein Schritt über Grenzen.
Ich finde es nicht mehr überzogen, wenn Christa Wolf die »ungeheure technische Schöpfung« aus unbefriedigten menschlichen Sehnsüchten erklärt. »Lebensersatz«, sagt sie, »Ersatz für Liebe«. Alles, »was wir Fortschritt nennen« sei »nichts als Hilfsmittel, um starke Gefühle auszulösen«. Indes, wie soll denn eine Lebenskunst aussehen – ohne Kunst ist es ohnehin nicht zu haben –, um gänzlich ohne Surrogate, Immitate, Simulierungen auszukommen, die uns angeboten werden für unser Wohlbefinden? Diese Gedanken hat Christa Wolf für sich weiter getrieben, als es zu lesen ist. »So wie unser Gehirn arbeitet, können wir nicht schreiben.«
Nach dem offiziellen Tauziehen um »Kassandra« (in der DDR – mit Kürzungen – immerhin bis 1990 in 200 000 Exemplaren verkauft und im ND damals nicht rezensiert, absichtsvoll »ausgesessen«, um einen vom »Großen Haus« dringlich verlangten Verriss zu vermeiden) hatte die Autorin mit »Störfall« weniger Schwierigkeiten. ND-Korrespondenten vermeldeten Lesungen in Moskau und Stockholm. ADN befleißigte sich zur Nachricht, dass Christa Wolf für »Störfall« in München den Geschwister-Scholl-Preis entgegennahm. Bereits am 30. April 1987 war im ND eine fundierte Rezension von Klaus-Dieter Schönewerk erschienen, in der mir am Schluss eine Formulierung auffällt, die sich sinngemäß wohl auch bei mir oft fand, wenn ich schreibend literarische Konflikte durchdachte: Das Buch sei für den Leser Herausforderung zu überdenken, wie er »seiner eigenen Verantwortung für Vergangenheit und Zukunft gerecht wird«. Ohnmachtsgefühle, wie es sie massenhaft gab, waren in den Medien nicht vorgesehen und wurden auch von mir nicht zugelassen.
Ich glaubte, glaubte es wirklich, dass alles Störende, Schmerzende überwindbar sei, wenigstens später. »Historischer Optimismus«, gestützt durch durch die offizielle Meinung und durch noch jugendliches Alter. So kurios es ist: Als »Störfall« erschien, war Christa Wolf sogar ein wenig jünger als ich es heute bin. Zwar bin ich längst noch nicht alt, doch der letzte Satz ihres Buches hallt ganz anders in mir nach als einst: »Wie schwer, Bruder, würde es sein, von dieser Erde Abschied zu nehmen.«
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