Die Landräterepublik
Thüringen hatte 1990 für einige Monate gleich 35 kleine Herrscher. Das wirkt noch heute nach
Erfurt. Die Thüringer »Landräterepublik« hatte für einige Monate 35 kleine Herrscher. »Wir haben in der Euphorie des Anfangs schon mal gesagt, dass über einem Landrat nur noch Gott und der blaue Himmel sei«, sagt Rüdiger Dohndorf. Der Physiker sah sich wie viele politische Seiteneinsteiger Anfang 1990 plötzlich als beinahe alleiniger Vertreter des Staates im Kreis Sömmerda – jenes Staates, den es bald nicht mehr geben sollte, und des neuen Staates, der sich erst noch etablieren musste.
Nach den Kommunalwahlen am 6. Mai 1990 wählten die Kreistage Landräte, während eine förmliche Landesverwaltung der Bundesländer erst nach der Regierungsbildung im November auf die Beine kam. »Es hat unterhalb der DDR-Regierung keine ernstzunehmende staatliche Behörde gegeben«, sagt Dohndorf, heute Präsident des Thüringer Landkreistages.
Schwacher Gegenpart
Die gefühlte Allzuständigkeit des Landrats in der Bevölkerung schildert Dohndorf mit der Episode eines in seinem Vorzimmer herumbrüllenden Mannes. »Der stürmte dann in mein Zimmer, knallte mir ein knüppelhartes Brot auf den Tisch und beschwerte sich, dass er dafür auch noch 2,50 Mark bezahlen musste.« Also habe es Beratungen mit Betrieben gegeben, in denen manche auch zu Lieferungen »verdonnert« worden seien. »Das Wort Rechtsgrundlage hat damals keiner gekannt«, erinnert sich Dohndorf. Aus solchen Episoden speiste sich, was der SPD-Landtagsabgeordnete Heiko Gentzel nicht nur wegen der durchgängigen CDU-Mitgliedschaft der damaligen Landräte etwas kritischer beschreibt: »Im Lauf der Zeit ist es zu einem ein bisschen übersteigerten Selbstbewusstsein der Landräte gekommen.« Selbst die regelmäßig als »kleine Fürsten« kritisierten Amtsinhaber weisen diesen Vorwurf nicht ganz zurück: »Ein kleines bisschen ist da schon dran«, räumt wie Dohndorf auch Ralf Luther ein, der in seinem Südthüringer Sprengel ebenfalls seit dem Jahr 1990 amtiert.
»Da es kaum Gesetze gab, war fast alles richtig, was man gemacht hat«, sagt Luther. Als Landrat habe er damals durchaus auch schon einmal die Treuhand bewegen können, einen Metallbetrieb nicht an ein Verpackungswerk, sondern an einen anderen Metallbetrieb zu verkaufen. Die Landräte hätten ihren Startvorteil gegenüber der Landesebene lange bewahrt, findet Gentzel. »Sie hatten mit dem ersten CDU-Ministerpräsidenten Josef Duchac auch einen schwachen Gegenpart.« Nach Ansicht Gentzels änderte sich das erst nach Duchacs Sturz unter seinem Nachfolger Bernhard Vogel: »Er hat nach zwei Monaten den Braten gerochen und gesagt: Ihr seid wichtig, aber nicht die Wichtigsten.«
Und keiner wurde Minister
In ihren Regionen habe sich dagegen wenig geändert, murrt der frühere Landtagsabgeordnete der Grünen, Olaf Möller: »Weil erst mal gar nichts da war, hat sich rasend schnell ein schwarzer Filz aufgebaut.« Die Landräte regierten »paternalistisch«, auch weil sie seit 1994 bei den Kommunalwahlen direkt gewählt werden – mit nach wie vor überdeutlicher CDU-Dominanz. So stark ihre Stimmen aber auch in der lange allein regierenden CDU und der Landespolitik sind – keiner der bisher 53 Landräte, darunter erst fünf Frauen, wurde je Minister.
Eine nach ganz anderen Regeln als Kommunalpolitik funktionierende Ministerialverwaltung ist nach Ansicht von Landrat Luther für viele kein erstrebenswertes Ziel: »Vielleicht ist Landrat der schönste Job, den es gibt.« Sein Verbandschef Dohndorf bedauert den Unterschied zu dem auch von Landräten mitregierten Nachbarland Hessen und hat eine ganz eigene Erklärung dafür: »Vielleicht findet man leichter einen Minister als einen guten Landrat.«
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