Knecht oder Revolutionär?

Griechen könnten das kritische Potenzial ihrer Jungen für den Wandel nutzen

  • Hansgeorg Hermann
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Athener Kaufmann Themistoklis Delvizopoulos ist, er möge diese Klassifizierung verzeihen, eine Art Mustergrieche. Nicht nur dass er nach dem Gewinner der Schlacht bei Salamis (480 v.u.Z.) heißt, der als Gründer der Attischen Demokratie geführt wird. Er ist auch das Beispiel eines »modernen« Bürgers – geschlagen und gebeutelt von allen Überraschungen, die das Modernsein so mit sich bringt.

Die Ahnen stammen aus dem ärmsten Norden des Landes, sein Vater wurde während des Bürgerkriegs und danach als Kommunist verfolgt, ihn selbst stuften die Obristen 1969 als verdächtiges Subjekt ein und ließen ihn drei Jahre lang im Dunkel einer feuchten Zelle des Averoff-Gefängnisses vegetieren. Heute verkauft der auf Kreta geborene Delvizopoulos Käse und Olivenöl von der Insel – während sein Sohn Jasonas mit Gleichaltrigen in Athens Straßen dagegen kämpft, was Vater und Großvater schon vergeblich bekämpften: den korrupten Staat.

Themistoklis' Laden liegt im Stadtteil Pankratis, fernab der Häuserzeilen, an denen zu allen Jahreszeiten Touristen flanieren und wo auch aus Dreck noch Geld gemacht wird. Daher ist sein Geschäft nicht nur Verkaufsfläche, sondern eine Art Straßenparlament, ein Ort der Versammlung und des Lärms, wenn Dinge zu diskutieren sind, deren Sprengkraft mehr Raum als das eigene Wohnzimmer erfordert.

Am Montag war die Stimmung »depressiv«, wie Themis es formulierte. Spätestens am Wochenende hatten auch die letzten an Armut und Kampf ums tägliche Brot gewöhnten Griechen begriffen, dass das »Hilfspaket« aus Brüssel nicht an sie, sondern an die Banken und deren im Verborgenen lauernde Kundschaft adressiert war.

Die griechische Krise ist keine Krise des griechischen Volkes. Ihre Verursacher sind eine Minderheit. Die große Mehrheit wohnt nicht in den feinen Athener Stadtvierteln Kolonaki oder Ekali, sie hat keinen beheizten Pool im Garten und fährt auch nicht im 3-Liter-Geländewagen mal eben übers Wochenende ins verschneite Parnassgebirge zum Drink an der Après-Ski-Bar.

Die mit dem Brüsseler Diktat wieder in den Zustand von Abhängigkeit zurückgestufte Mehrheit profitierte nie von jenem Klientelsystem, das die Türken einst einführten und das die mit ihnen – bis zur Revolution 1821 – immer mal wieder opportunistisch verbandelten einheimischen Aristokraten nach dem Zusammenbruch des Ottomanischen Imperiums übernahmen und verfeinerten. Bis zum heutigen Tag profitierten in erster Linie des Lesens und Schreibens mächtige Grund- und Kapitalbesitzer, die den Staat nach dem vom Volk mit Waffen erzwungenen Abzug der Türken in Privatbesitz übernahmen.

Der Mannheimer Historiker Heinz Richter, Spezialist für neue griechische Geschichte, sagt: »Die Köpfe der von den Türken übernommenen Netzwerke wurden Minister und Premierminister und konnten an ihre Anhänger Gefälligkeiten jeder Art verteilen. So entstand der heutige Klientelismus. Der Staat wurde zum Ausbeutungsobjekt der Politiker. Vielleicht wäre es ohne die Einmischung der europäischen Mächte nach dem Befreiungskampf von 1821 gelungen, einen solchen Staat zu entwickeln. Aber die Mächte oktroyierten den Griechen eine Monarchie von Großmächte Gnaden.« Statt eines funktionierenden Staatswesens bekam das Volk König Otto aus Bayern.

Die Griechen hatten ohne Zweifel Chancen, sich ein Staatswesen – man mag es ein »demokratisches« nennen – aufzubauen. Zunächst nach dem Abzug der Wehrmacht und dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Stattdessen folgte der Bürgerkrieg, angeheizt von Winston Churchills interessierten britischen »Befreiern«, der das Volk auf Generationen in unversöhnliche politische Lager spaltete. Dem Ende des bewaffneten Bruderkampfes folgte eine Verfassung, die der Linken die Teilnahme am politischen Leben verweigerte. Als diese Linke sich zu Beginn der 60er Jahre dennoch zu einer Macht im Volk zu entwickeln begann, folgte die – von verbündeten Demokratien in den USA und Europa durchaus wohlwollend in Kauf genommene – Militärdiktatur. Es folgte 1974, nach dem Sturz der Junta, die Rückkehr jener hochgebildeten bürgerlichen und wohl auch korrupten Minderheit an die Spitze des Staates, die die Machtübernahme der Obristen erst ermöglicht hatte.

Mit ihr machten die Verbündeten prächtige Geschäfte. Die Deutschen zum Beispiel, die von der nützlichen »Feindschaft« zwischen den NATO-Partnern Türkei und Griechenland ordentlich profitierten: 12 Prozent der deutsche Waffenexporte zwischen 2004 und 2008 gingen nach Athen, 15 Prozent an den Bosporus. Wenn griechische Regierungen in der Vergangenheit zu viel Geld ausgaben, dann taten sie das auch, weil sie ihre Waffenarsenale mit teurem deutschem Kriegsgerät anfüllten. Dies ist eines der von den jungen Menschen als besonders ekelhaft empfundenen Geschäfte mit einem Staat Deutschland, dessen Kanzlerin Merkel die Treue des griechischen Kunden heute nicht mit Dank sondern mit ökonomischen Zwangsmaßnahmen belohnt.

Die Pariser »Le Monde« attestierte am Montag in ihrer Sonderbeilage zum europäischen Finanzgipfel resigniert: »Es mag sich offiziell um die Rettung Griechenlands handeln – in Wirklichkeit aber geht es um die Rettung der Banken.«

Die Griechen zwischen Thessaloniki und Heraklion, die für Jahre unter der Fuchtel ihrer europäischen Partner und derer im weltweiten Finanzwesen berüchtigten Bankkapitäne vegetieren sollen, werden sich dagegen wehren, was gegen ihre Interessen beschlossen wurde. Sie sind nicht mehr das Volk von Analphabeten, das sie in den Jahren vor der Militärdiktatur noch waren. Vor allem ihre Kinder werden nicht hinnehmen, was nicht nur von der linksliberalen Zeitung »Eleftherotypia« als das wahrgenommen wird, was es ist – schreiendes Unrecht: »Vier Jahre ohne Verschnaufpause. Der Sturm der Sparmaßnahmen trifft vor allem jene im öffentlichen Dienst, die nun für das Versagen der Regierungen geradestehen müssen. Die Maßnahmen mögen nötig sein, um den Bankrott zu verhindern – aber sie sind ungerecht. Sie treffen fast ausschließlich die Leute, die ein aufs andere Mal die Rechnung zu zahlen haben: Arbeitnehmer und Pensionäre.«

Unter diesem Eindruck erscheint eine Revolution in Griechenland, ausgehend von eben dieser neuen, gebildeten Generation, wünschenswert. Eine von unten erzwungene Reform der gesamten Geld- und Finanzwirtschaft wäre nicht nur für das gebeutelte Volk an der Ägäis, sondern auch für ihre Nachbarn in ganz Europa, die unterm Strich nicht viel besser dastehen, letztendlich ein Segen. Vielleicht sind die Griechen ja in Wirklichkeit nicht die Knechte, als die sie seit dem 3. Mai in der Weltöffentlichkeit dastehen, sondern die Initiatoren einer neu zu formenden sozialen, besser – sozialistischen Marktwirtschaft.

Der Autor, geb. 1948, freier Kulturjournalist, schrieb unter anderem eine Biografie Mikis Theodorakis'. Er lebte 16 Jahre auf Kreta und wohnt heute in Paris.

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