• Kultur
  • 8. ND-Lesergeschichten-Wettbewerb

Frühlingserlachen

  • Lesedauer: 4 Min.

Die Hand ist weich. Fühlt sich zerbrechlich an. Ist klein. Wer will, könnte sie leicht zerquetschen. Doch wer würde so etwas tun? Meine Hand kann sie völlig umschließen. Ich halte sie gern. Und ich halte sie fest, so fest wie nötig, dass sie mir nicht verloren geht. Das wäre das Schlimmste! Von ihr geht eine Wärme aus wie von einem frisch gebrühten Tee, den man liebt und bei dem man bereits vor dem Genuss die Wohltat in sich spürt, die allein seine Existenz bewirkt, und den man zugleich vorsichtig schlürft, um sich nicht zu schaden.

Doch hier geht es nicht um Tee und nicht um mich. Obwohl? Manchmal kann sie auch Schaden anrichten. Wäre mein Arm ein Gummiband, spürte ich nicht den Ruck in meiner Schulter. Immer und immer wieder. Aber ich halte es aus und sie fest. Auch das kräftige Armschaukeln nach vorn und hinten nützt nichts. Wie eine Kralle umschließe ich sie, je mehr sie sich aus der Umklammerung zu winden versucht. Dabei stehe ich auf einem Hügel mit Aussicht auf die Fernverkehrsstraße, zur gegenüber liegenden Burg und in den Abgrund. Einen solchen sah ich schon einmal, zwei Jahre zuvor.

Damals wehte kein lauer Frühlingswind. Ein Sturm wühlte alles auf, was vor ein paar Wochen mein größtes Glück bedeutet hatte. Wie nach einem Buschfeuer drohte er das zu vernichten. In neun Monaten gewachsen und sorgsam gehütet, sollte es jetzt schon begraben werden? Nein! Das wollte ich nicht zulassen! Doch ich konnte nichts ausrichten. So versank ich mit jedem Tag tiefer in meinem ganz persönlichen Abgrund, von meinem seelischen Sturm gepeitscht, getrieben und doch zur Untat verurteilt. Das Schreigelb der Narzissen beantwortete ich nicht. Die blutroten Tulpen hätte ich am liebsten alle aus dem Boden gerissen. An das Wort Blut wollte ich nicht erinnert werden. Wieder erwachte die Todesangst in mir. Deshalb befühlte ich sie auch damals schon, so oft ich konnte. Es war das gleiche Gefühl, nur mit Trauer durchwoben. Alle Krokusse der Welt hätten zu riesigen Pflanzen emporschießen können, hätte ich meine Tränen nicht zurückhalten müssen. Sie dienten zu nichts, weder als Trost, noch um den Vernichtungsbrand in mir zu löschen. Um mich herum erwachte die Natur aus dem Schlaf, und ich drohte in eine nie zuvor gekannte Starre zu fallen. Nichts interessierte. Wie im Trance suchte ich immer wieder die weiße, durchsichtige Hand und befühlte die zarte runzlige Haut an den Stellen, die die Infusionsnadel frei ließ. Sie schien sich geradezu in das Baby zu fressen und bedeckte schon fast den gesamten Handrücken. Doch ich wusste, die vielen Apparaturen waren die einzige Rettung für unser Kind. Liebevoll streifte ich auch über den Flaum auf dem Kopf, als könnten meine Liebkosungen die durch die unbekannte Krankheit verursachte Lebensgefahr abwenden.

Wie man hört, sind wir noch einmal entkommen. Wie lange, weiß ich nicht. Ab und zu stehe ich wieder vor einem tiefen seelischen Loch, denn die Krankheit ist noch immer unheilbar. Wie schön, jetzt nur vor diesem realen Abgrund zu warten und dem Drängen der kleinen, widerspenstigen Hand nachzugeben. Erwartungsvoll laufen wir ein paar Schritte weiter zum Eingang der Sommerrodelbahn, die sich in Serpentinen an den Berg schmiegt. Die Sonne scheint. Der benachbarte Skihang erholt sich von den Winterstrapazen, die Besucher vom Wochenalltag und die kleine, moppeliche Hand zerrt weiterhin in meiner voller Ungeduld. Die Bahn ist trocken, die Schlange an der Kasse vertretbar. Beim Anstehen sehe ich die Frühlingsblüher, denke an damals und genieße sie. Auch die weiche, warme Hand.

Nein – sie ist nicht wie heißer Tee. Nie könnte sie mir schaden. Erforschen, ausprobieren – ein Kind wie alle. Häufig reicht ihre Puste beim Spielen nicht. Was macht das schon? Einfach herum stehen. Wir lieben es. Schauen und staunen. Und manchmal lachen wir. Einfach so. Ohne Grund. Lachen auf Vorrat!!!

Ina Göschel

09577 Niederwiesa

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.