Es ist nicht nur Theater
Heute beginnen die 41. Passionsspiele in Oberammergau / Spielleiter Christian Stückl über den Juden Jesus, kreativen Umgang mit Tradition und den Lebensrhythmus eines Dorfes
Um die Pest zu bannen, gelobten die Oberammergauer 1633, alle zehn Jahre ein Passionsspiel zu veranstalten. Die erste Aufführung war 1634, 1680 wurde das Spiel auf die Zehnerjahre verlegt. Die Musik des Oberammergauer Lehrers Rochus Dedler (1779-1822) und der Text des Oberammergauer Pfarrers Joseph Alois Daisenberger (1799-1883) bilden bis heute die Grundlagen der Aufführung. Trotz heftiger Kritik jüdischer Organisationen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der negativen Darstellung des Judentums wurden zunächst lediglich geringfügige Änderungen vorgenommen. Erst für die Passionsspiele 2000 gelang unter der Leitung von Christian Stückl eine umfassende Reform. Bei den 41. Passionsspielen wirken rund 2400 Darsteller mit – fast die Hälfte der Bevölkerung von Oberammergau. Spielberechtigt sind nur gebürtige Oberammergauer und Bürger, die seit mindestens 20 Jahren in der Gemeinde leben. Die 21 Hauptrollen (so Jesus, Maria, Johannes, Judas, Petrus, Pontius Pilatus) sind doppelt besetzt. Vom 15. Mai bis zum 3. Oktober finden 102 Aufführungen statt (montags und mittwochs ist spielfrei). Insgesamt etwa 500 000 Besucher aus aller Welt werden zu diesem bedeutendsten Kulturereignis im Gebiet der Ammergauer Alpen erwartet. Der überdachte Zuschauerraum (4700 Sitzplätze) des vor zehn Jahren komplett renovierten Passionstheaters wurde 1898 erbaut, die Freiluftbühne 1928. ibo
ND: »Das Wunder von Oberammergau« heißt ein Roman von Luis Trenker über den Ursprung der Passionsspiele, die diesen Sonnabend ihre 41. Premiere erleben. Als langjähriger Spielleiter haben Sie selbst ein kleines Wunder vollbracht: Die Jahrzehnte, ja, Jahrhunderte vorherrschenden Angriffe auf den Passion* sind weitgehendem Wohlwollen gewichen. Auch die Oberammergauer sind mehrheitlich zufrieden. Wie ist Ihnen diese Versöhnung gelungen?
Stückl: Schon als Jugendlicher wurde ich mit der Frage konfrontiert: Wie geht man um mit Kritik an diesem für die Oberammergauer so existenziellen Spiel, vor allem mit Kritik an dessen Antijudaismen? Als ich dann 1987 zum Spielleiter gewählt worden war, habe ich diese ganze Diskussion voll angenommen, weil ich sie unglaublich spannend fand, spannend und produktiv. Und damit war der Hauptkritikpunkt an den Passionsspielen in Oberammergau, die sich zuvor gegen jegliche Mitsprache verschlossen, plötzlich weg. So konnte ich mit den jüdischen Organisationen offene Gespräche suchen und führen, Änderungen in Text und Handlung erreichen.
Andererseits war ich damals der bis dato jüngste Spielleiter, was die ältere Generation auch als Kampfansage sah, ihr das Spiel aus der Hand zu nehmen. Letztlich hat sich diese zunächst sehr heftige, wechselseitige Kritik über die Jahre und Jahrzehnte – und über die neu ins Spiel gekommenen Generationen – ausgezahlt. Oberammergau zeigt 2010 wie einst 1634 eine der größten Geschichten aller Zeiten – uralt, aber mit neuer Vitalität.
Warum gelang es erst Ende des 20. Jahrhunderts, den Oberammergauer Passion vom Antijudaismus zu befreien?
Es gibt eine ebenso lange wie unselige Tradition des Antijudaismus in der Geschichte des Christentums. Das betrifft auch die besonders im Mittelalter weit verbreiteten Passionsspiele. Über Jahrhunderte wurde darin erzählt, Jesus sei der erste Christ gewesen und die »bösen« Juden hätten den ersten Christen umgebracht, sie hätten unseren Religionsstifter, unseren Heiland, unseren Gott ans Kreuz genagelt. Leider ist diese Sehweise dadurch tief verinnerlicht worden, so tief, dass sie bis in die Gegenwart oft die Sicht verstellt und vergiftet.
Jesus war ja zuallererst Jude.
Eben. Wir sind jetzt das dritte Mal mit 40 Oberammergauern, die beim Passion mitmachen, nach Israel gefahren, um an authentischem Ort zu begreifen, dass das eine ursprünglich zutiefst innerjüdische Geschichte ist, dass Jesus sich absolut als Jude begriff und all sein Denken dem Judentum entsprang. Diese Sicht widerspricht natürlich vielen Schablonen, die immer noch aufgelegt werden: Pontius Pilatus wäscht seine Hände in Unschuld, die Juden sind unerbittlich und tragen die Schuld. Das erzählen wir nicht mehr so, aber dennoch kommt man nie ganz weg davon. Es bleibt da immer ein Rest, und wenn es nur der Rest ist, der in den Köpfen der Zuschauer sitzt. Deswegen kann man nie ganz zufrieden sein. Deswegen sagen wir, wir müssen den Dialog weiterführen, wir müssen uns weiter mit den Leuten auseinandersetzen, mit der Geschichte auseinandersetzen.
Ist eine jahrhundertealte Tradition nicht ein Bollwerk gegen Veränderungen, gegen Neuerungen?
Schaut man zurück auf die Geschichte der Passionsspiele, dann hat es eigentlich immer wieder Neuerungen gegeben. Erst, als der Tourismus einsetzte und Oberammergau wirtschaftlich vom Passionsspiel abhängig wurde, kam die Angst vor Veränderungen. Und deswegen habe ich versucht über die Jahre hin, den Leuten klarzumachen, dass Veränderungen notwendig sind, weil Tradition nichts Statisches ist, sondern immer wieder kreativ gerechtfertigt werden muss. Wir haben jetzt zum zweiten Mal ganz neue Kostüme, ganz neue Bühnenbilder, wir spielen das erste Mal nicht vom Vor- bis zum Nachmittag, sondern vom Nachmittag in die Nacht hinein.
Aber das sind erst einmal äußerliche Dinge. Was mir ganz wichtig ist, ist der Blick auf die Figur Jesus. Wir haben völlig neue Szenen geschrieben, wir haben versucht, Jesus von dieser Leidensgestalt wegzubringen, wie sie ja auch bei Mel Gibson in seinem Film »Die Passion Christi« ganz extrem dominiert. Denn Jesus hatte eine große Idee von Vergeben und Versöhnen. Er wollte, dass die Menschen umdenken. Man kann Jesus nicht auf die Leidensgeschichte reduzieren, wie es die statische Betrachtung der Passionstradition fordert. Diese Tradition erzählt immer nur die letzten Tage im Leben Jesu. Wir haben versucht, neue Szenen wie die Bergpredigt einzubinden und so den Blick auf Jesus zu weiten und zu schärfen.
1980 hielt der damalige Kardinal Joseph Ratzinger die Predigt zur Eröffnung der Passionsspiele. Der Mann, der heute Papst ist, sagte, »die Passionsspiele müssen ihrem Kern nach Gebet sein«. Ist der Glaube für die heutigen Spiele noch ein relevanter Faktor? Oder ist alles nur Theater?
Wenn ich nicht an Jesus interessiert bin, an der Gestalt und an der Botschaft, dann brauche ich die Geschichte nicht zu erzählen. Ich sage immer, wenn wir die Geschichte nicht ernsthaft erzählen, glaubhaft, also auch vom Glauben her, dann brauchen wir erst gar nicht damit anfangen. Trotzdem ist es Theater. Wir veranstalten weder einen Gottesdienst noch zelebrieren wir Gebete. So wie Bach die Matthäuspassion oder die Johannespassion mit den Mitteln der Musik erzählt, so erzählen wir die gleiche Geschichte mit den Mitteln des Theaters. Es ist Theater. Aber eben nicht nur.
In einer katholischen Publikation von 1990 habe ich den Satz gefunden, »eine gläubige Identifizierung mit der Handlung« sei »Vorbedingung« auf der Seite der Spieler? Gibt es diese Identifizierung?
Hätte ich bei meinen beiden Jesus-Darstellern das Gefühl, sie würden sich nicht in irgendeiner Weise damit identifizieren, dann müsste ich an ihnen zweifeln. Aber wie sie es mit der Religion halten, also die berühmte Gretchenfrage, das ist ihre ganz persönliche Sache. Seit dem Jahr 2000 dürfen ja auch Muslime mitspielen. Ein 17-jähriger muslimischer Mitwirkender in Oberammergau wurde kürzlich von einem Journalisten gefragt, wie das denn funktioniere. Und er antwortete, dass Glaubensrichtungen aufeinander zugehen müssen, das lerne er in Oberammergau. Spielend.
Was bedeutet für Sie Religion?
Der Gestalt Jesu bin ich durch die intensive Beschäftigung immer näher gekommen. Sozusagen in Schritten über jeweils zehn Jahre. Aber letztlich bleibt Glaube stets auch Suche. Was in der Bibel beschrieben wird, beschreibt zugleich einen langen Weg zu Gott. Manchmal überwiegt der Zweifel, manchmal ist man näher dran.
Ich reise seit 15 Jahren regelmäßig nach Indien. Dort spüre ich, wie total ich als Katholik sozialisiert bin. Meine Großmutter wollte mich immer in die evangelische Kirche mitnehmen, einmal gelang es ihr. Anschließend habe ich erklärt, das Evangelische sei furchtbar fad – weil mich als Kind Weihrauch, Musik, Farbenpracht in der katholischen Kirche viel mehr beeindruckten. Aber letztlich haben Katholiken, Protestanten, Muslime, Juden eine gemeinsame Geschichte, die viel näher an der Idee von Jesus dran ist als all das Teilende und Trennende.
Auch wenn die Wirtschaftskrise den Kartenverkauf 2010 etwas schleppender gestaltet – die Faszination am Spiel um Leiden, Tod und Auferstehung scheint seit 376 Jahren ungebrochen. Woher kommt diese Anziehungskraft, für Mitwirkende wie für Zuschauer?
Kürzlich saßen wir nach der Probe noch in der Kneipe. Da war auch ein Altbürgermeister, der eine kleine Rolle hat als Simon von Kyrene, der ein Stück das Kreuz Jesu nach Golgota trägt. Auch seine drei Söhne sind mit im Spiel. Er nannte es faszinierend, was allein in diesem Zehnerjahr für persönliche Kontakte in Oberammergau entstanden. Für uns Oberammergauer ist das alle zehn Jahre unser größtes soziales Event. Es bestimmt den Lebensrhythmus. Fast 2500 Menschen bei insgesamt 5000 Einwohnern spielen mit. Das halbe Dorf. Sie erzählen eine große sechsstündige Geschichte und schreiben damit zugleich ihre eigene Geschichte, die Geschichte ihrer Gemeinschaft. Der Papa war schon dabei, der Opa war schon dabei, die Mama war schon dabei, jeder erzählt und jeder merkt, dass er im Zehnerjahr in einem ganz neuen Lebensrhythmus ist. Natürlich beruft man sich auf die Tradition und das Pestgelübde, aber letztlich ist es, glaube ich, dieses gemeinsame Leben, dass man da auf die Bühne stellt.
Und die Hunderttausenden Zuschauer kommen, weil die Passion eine der größten Geschichten bleibt. Nach wie vor bewegt sie Millionen – egal, ob sie von Pasolini oder Mel Gibson in Filmszenen gesetzt oder von uns auf die Bühne gebracht wird. Es zieht die Menschen hin zu dieser Geschichte. Auch nach 2000 Jahren.
Sie sind Intendant am Münchner Volkstheater und arbeiten als Gastregisseur im In- und Ausland. Wo steht in diesem Kontext Ihre Arbeit als Passionsspielleiter?
Wirklich zum Theater gekommen bin ich durch Oberammergau. Und das spüre ich, wenn ich alle zehn Jahre wieder Passion mache, dahin zieht es mich, das ist mehr als das Bauen an einer Karriere. Da ist mein gesamter Freundeskreis, da spielen Leute mit, die kenne ich zum Teil, seit sie auf der Welt sind, zum Teil bin ich mit ihnen selber groß geworden. Es ist eine andere Ebene als am normalen Theater, wo es Konkurrenzkampf gibt, wo es natürlich auch um Karriere geht. Selbstverständlich bin ich wahnsinnig froh, dass ich mich seinerzeit entschieden habe, Theaterregisseur zu werden und das in vielen spannenden Projekten realisieren kann. Ich leite das Volkstheater unglaublich gern, ich liebe es, Oper zu inszenieren oder Großveranstaltungen wie die Eröffnung der Fußballweltmeisterschaft. Das ist das Schöne an diesem Beruf: Immer wieder von Neuem anfangen können, immer wieder neue Geschichten erzählen können. Aber – und das ist der entscheidende Unterschied zu allen meinen anderen Arbeiten – in Oberammergau, bei den Passionsspielen, da bin i dahoam.
Interview: Ingolf Bossenz
*In der Oberammergauer Mundart ist das Wort »Passion« männlich.
Christian Stückl wurde 1961 im oberbayerischen Oberammergau geboren, wo er 1981-84 eine Lehre als Holzbildhauer machte und ab 1981 eine Theatergruppe aufbaute. 1987 wurde er Regieassistent an den Münchner Kammerspielen und im selben Jahr zum 1. Spielleiter der Passionsspiele 1990 gewählt (Wiederwahl 1996 und 2005). Seit 2002 ist Stückl Intendant am Münchner Volkstheater. Er arbeitete als Gastregisseur unter anderem in Wien, Bonn, Karlsruhe, Hannover. Stückl inszenierte Hugo von Hofmannsthals »Jedermann« für die Salzburger Festspiele 2002 und – als seine erste Oper – 2004 in Köln Ludwig van Beethovens »Fidelio«. 2006 gestaltete er im Auftrag des österreichischen Aktionskünstlers André Heller die Eröffnungsfeier der Fußball-WM in München.
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