Andrang zum »Köder Gottes«
Das »Grabtuch Christi« in Turin wird die letzte Woche gezeigt
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»In verzehrender Habgier und nicht aus Hingabe, sondern nur aus Gewinnabsicht wurde ein listig gemaltes Tuch angeschafft, auf dem mit großer Fingerfertigkeit das zweifache Bild eines Mannes dargestellt ist, das heißt Vorder- und Rückansicht, von dem sie fälschlich behaupten und vortäuschen, dass dies das wirkliche Grabtuch sei, in welches unser Heiland Jesus Christus in der Grabesgruft eingewickelt war.« Böse Worte eines Skeptikers anlässlich der derzeitigen Ausstellung des Leichentuches in Turin? Nein! So äußerte sich der Bischof von Troyes im Jahre 1389! Und wenn er damals schon von »Gewinnabsicht« sprach, was würde er dann wohl heute sagen? Schon im Jahr 2000, das vorige Mal, dass die Sindone – so heißt das Grabtuch auf Italienisch – in Turin ausgestellt war, kamen über eine Million Menschen in den Dom der alten Königsstadt, um einen kurzen Blick darauf zu werfen. Dieses Mal rechnet man mit wesentlich mehr. Und auch wenn der Eintritt in den Turiner Dom nichts kostet, ist das ganze Drumherum – von Pilgerreisen über Lunchpakete bis zum pseudoreligiösen Kitsch – doch eine beachtliche Einnahmequelle.
Das Stück Stoff mit seinen Maßen von 4,36 mal 1,10 Meter erfreute sich vor allem in den vergangenen 100 Jahren wachsender Beliebtheit. Scharen von Wissenschaftlern – oder Solchen, die es gerne wären – beschäftigen sich mit dem Tuch und versuchen, dem »ewigen Rätsel« auf die Spur zu kommen, ob es denn nun echt sei oder nicht. Für all diese Forschungen von Textilfachleuten, Numismatikern, Physikern, Archäologen, Kunsthistorikern, Chemikern, Theologen, Geschichtsprofessoren hat man sogar einen eigenen Namen: Man nennt das Sindonologie.
Eigentlich war man ja in den vergangenen 40 Jahren schon mehrmals zu einer ziemlich eindeutigen Sicht gelangt: Das Tuch stammt aus dem Mittelalter und das menschliche Bild darauf wurde wohl mit Zinnober und anderen Materialien angebracht. Aber dann wurde alles wieder in Frage gestellt, erneut untersucht, bis man zu dem vorläufigen offiziellen Endergebnis kam: Nichts Genaues weiß man nicht.
Seltsam ist dabei Folgendes. Das »normale Volk« streitet sich über die wahre Natur des Lakens und haut sich fast die Köpfe ein, während der Eigentümer des Grabtuches, der Vatikan, eine ganz klare Stellung bezogen hat. Es sei vollkommen egal, von wann die Sindone nun ist, ob echt oder eine Fälschung: Wichtig sei nur, was sie für die Gläubigen darstelle! Also weniger eine Reliquie als vielmehr eine Ikone.
»Das zerschundene Antlitz erinnert den Menschen an das Leid so vieler Brüder«, meinte einst Papst Papst Johannes Paul II.; also ähnlich wie Fotos von Kriegsopfern, Kindersoldaten oder Bootsflüchtlingen. Papst Benedikt XVI. erklärte anlässlich seines Besuchs bei dem Sakralgewebe im Turiner Dom Anfang Mai während eines Gottesdienstes: »Das heilige Grabtuch erinnert uns ständig an die Leiden Jesu.« Ein »Köder Gottes«, so formulierte es einmal Kardinal Christoph Schönborn sehr schön und sehr zweideutig.
Und der Köder funktioniert. Aus aller Welt lockt er die Menschen an und die Organisation ist in Turin trotz der Massen perfekt, denn schließlich hatte man sie ja schon 2006 anlässlich der Olympischen Winterspiele getestet. Die Pilger verhalten sich wohl, werfen Abfälle nur in die dafür vorgesehenen Eimer und wenden sich bei allen Fragen an die freiwilligen Helfer mit den lila Westen, auf denen man sehr diskret den Namen einer großen Bank erkennen kann. Geduldig unterziehen sie sich den für den Besuch gültigen Regeln: vorher anmelden und dann trotzdem lange anstehen. Eingangsschleusen wie im Fußballstadion.
Wobei aufgrund des großen Andrangs mehr als ein kurzer Blick und vielleicht noch ein Stoßgebet nicht möglich ist. Etwas länger dürfen nur die Promis in Ehrfurcht verharren: Politiker wie der neu gewählte Ministerpräsident von Piemont, Roberto Cota von der Lega Nord, dessen erste Amtshandlung ein Besuch beim Grabtuch war; aber auch Unternehmer wie Ferrari-Chef Luca Cordero di Montezemolo und FIAT-Boss Sergio Marchionne; oder Fußballer von Juventus Turin wie Diego und Alessandro Del Piero. Sie dürfen etwas länger verweilen, um dann den herbeigeeilten Journalisten zu sagen, wie »bewegt« oder »ergriffen« sie sind.
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