Lässt sich die Wirtschaft vorhersagen?
Neues Buch beschäftigt sich mit Prognosen und ihrer Bedeutung für Ökonomie und Staat
Unter dem Titel »2030. So leben wir morgen«, startete der »Focus«, das Zentralorgan der Neoliberalen, kürzlich eine neue Serie. Keine Angst, hier wird nicht näher darauf eingegangen. Dieses Beispiel zeigt nur, dass Prognosen zu unserem Alltag gehören. Ob Bevölkerungsentwicklung, Klimawandel oder die nächsten Wahlen: wissenschaftlich untermauerte Spekulationen über die Zukunft sind allgegenwärtig.
Das Phänomen ist nicht neu. Schon seit mehr als einhundert Jahren existiert die Prognostik. Mit ihrer Entwicklung bis zur Gegenwart setzte sich im Jahr 2008 eine Tagung auseinander, deren Resultate nun im Buch »Zukunftswissen« nachlesbar sind. Die Autoren verbindet die These, dass Prognosen häufig den Zeitgeist, also Diskurse, Ängste und Hoffnungen ihres Entstehungsumfelds, widerspiegeln.
Die Beiträge zeigen, dass die Prognostik nicht auf den Bereich der Statistik begrenzt ist, im Gegenteil: Es werden verschiedene Bereiche von Wissenschaft und Gesellschaft daraufhin untersucht, wie sich die Prognostik in und mit ihnen entwickelt hat. So werden das Militär, die Verkehrs- und Städteplanung, der demografische Wandel und das Aufkommen ökologischer Schreckensszenarien in den 1960ern kritisch untersucht. Dabei geht es neben aktuellen Fragen immer auch um Historisches.
So beleuchtet Martin Lengwiler die Bedeutung von Prognosen für die Entstehung des Versicherungswesens: Mit der Entstehung von Statistiken über Geburts- und Sterberaten und Krankheitsrisiken konnten Versicherungen im 19. Jahrhundert ihre Risiken exakter kalkulieren, was zu ihrem wirtschaftlichen Erfolg beitrug. Gleichzeitig sorgten Prognosen dafür, dass Regierungen den Ausbau des Sozialstaates besser planen konnten, wie ein anderer Text beschreibt. Später kamen neue Politikfelder hinzu.
Das wird an der Entwicklung der Wirtschaftsprognostik in der BRD nachgezeichnet. Die Autoren beschreiben, wie das Genre in seiner Frühphase mit dem Antikommunismus ringen musste. Dessen Vertreter sahen darin nämlich eine Vorhut der Planwirtschaft, also »Teufelszeug«. Erst nach und nach wurde diese Position überwunden. Im folgenden Jahrzehnt erlebte die Disziplin im Zuge des blühenden Futurismus einen Boom, der erst Anfang der 1970er endete.
Mit der Ölkrise, dem Club-of-Rome-Bericht und dem Ende der Bretton-Woods-Ära geriet auch die Prognostik in die Krise. Der Anteil an Prognosen für Unternehmen ging zurück, dafür verlangte die Politik auf immer mehr Feldern nach Expertenstudien. Dieser Trend hält bis heute an.
In einem Beitrag wird der Blick auf die DDR gerichtet: Beschrieben wird, wie der Realsozialismus mit seinem geschichtsphilosophischen Endzustand Kommunismus, einen anderen Anspruch an die Prognostik stellte, als die »offene Gesellschaft« (Karl Popper) der BRD. Dementsprechend ging es in der DDR um kurzfristigere Vorhersagen, die zur Plangestaltung hinzugezogen wurden.
Am Beispiel der Molekularbiologie wird das Zusammenspiel von Forschung und Politik nachgezeichnet: Man erfährt, dass Walter Ulbricht höchstpersönlich ein reges Interesse am Thema hatte und entsprechende Prognosen unterstützte. Seine Hoffnungen wurden aber nicht erfüllt. Als hemmend für die Wissenschaft erwies sich die Bürokratie mit ihrer zentralistischen und inflexiblen Struktur.
Beim Lesen kommt man zum Ergebnis, dass nicht nur der Einfluss des Kapitals heute, sondern auch eine zu starke Einmischung der Bürokratie kontraproduktiv für die Forschung sind. Wenn seitens der Auftraggeber und/oder Finanziers einer Studie Ergebniswünsche mitschwingen, kommt jedenfalls meist nichts Gutes dabei heraus. Und diese Gefahr bleibt latent.
Heinrich Hartmann, Jakob Vogel (Hg.): Zukunftswissen. Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit 1900, 303 Seiten, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2010, 29,90 Euro
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