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Altes Kurierspiel wieder entdeckt
Rick Knowlton baut und verkauft Schachspiele und -figuren aller Epochen und Weltgegenden
ND: Warum sollte jemand bei Ihnen Sets für mongolisches, chinesisches, burmesisches oder altes arabisches Schach kaufen, wenn es doch schon lange die bewährte Standardversion gibt?
Knowlton: Macht es Ihnen etwa keinen Spaß, eine andere Sprache zu lernen, die internationale Küche zu kosten, die Artefakte einer uralten Zivilisation auszugraben, in ferne Länder zu reisen? Den Genuss kann man auch bei Spielen haben.
Demnach begreifen Sie Schach und dessen Ableger als Spiegelbilder des spezifischen Charakters einer Kultur?
Genau das macht das Studium von Schachvarianten derart faszinierend. Auf der einen Seite bleibt es stets das gleiche Spiel: ein Haufen von Figuren, die den feindlichen König fangen sollen. Aber gleichzeitig sind im Lauf der Geschichte an unterschiedlichen Orten unseres Planeten voneinander abweichende Entscheidungen getroffen worden, die das Spiel auf die eine oder andere Art geändert haben, und das gibt Aufschluss über die jeweiligen kulturellen und ästhetischen Werte, die dafür maßgeblich gewesen sind.
Wie sieht das konkret aus?
Nehmen Sie China oder Japan, wo die Schachsteine keine aufrecht stehenden modellierten Figuren sind, sondern flache Scheiben oder Plättchen mit aufgemalten Schriftzeichen. Das weist auf den hohen künstlerischen Rang hin, der in Fernost der Kalligrafie beigemessen wird. Oder die Mongolei, die stolz ist auf die mächtige Tradition der identitätsstiftenden Macht ihrer Klans, und das manifestiert sich sogar in den mongolischen Spielsätzen.
Schach ist weltweit gesehen also viel bunter, als wir bisher es eurozentrisch angenommen haben ...
... und daher ist es traurig zu beobachten, dass sich für viele Schachfans unser geliebtes Spiel auf ein schwarz-weiß koloriertes und computergestütztes Unternehmen reduziert. Aber Schach ist auch wie der verzauberte fliegende Teppich der Fantasie. Und die wechselnden Formen, die Schach ausgebildet hat, sind die Länder und Zeiten, zu denen wir reisen können.
In Ihrem Angebot finden wir unter anderem auch »Shatranj«, die klassische Version des Schachs in Persien und Arabien, die Ende des 15. Jahrhunderts von der modernen Variante abgelöst worden ist.
Shatranj verfügte über einen reichen Fundus an analytischer Literatur, hatte bereits eine eigene Tradition heroischer Großmeister und war eines der bedeutendsten Themen in der Literatur seiner Zeit. Diese alte Schachform hat ungefähr tausend Jahre existiert – und damit doppelt so lange wie unser modernes Schach.
Kann ein Spiel wie »Shatranj« helfen, unseren Zugang zur muslimischen Kultur und Welt zu erleichtern und Vorbehalte abzubauen?
Ich denke schon. Die westliche Gesellschaft schuldet dem Islam sehr viel. Neben Schach verdanken wir der muslimischen Welt als kulturelles Erbe die Methodik, ohne die wissenschaftliche Arbeit nicht denkbar wäre, dazu das Handwerkszeug, um grundlegende mathematische Operationen durchzuführen – Stichwort: Algebra – und nicht zuletzt jene Bibliotheken, in denen die Werke antiker Philosophen nach dem Untergang des Römischen Reiches gerettet worden sind.
Sie bieten auch das Kurierspiel an, das im sachsen-anhaltinischen Schachdorf Ströbeck bis 1885 gepflegt worden ist.
Wenn ich einen Beitrag zur Schachgeschichte geleistet habe, dann diesen: Anhand eines berühmten Gemäldes des Niederländers Lucas van Leyden, »Die Schachpartie«, zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstanden, habe ich die besagte Variante wieder auferstehen lassen. Kurierschach war erstaunlich populär und ist ab ungefähr 1200 in Europa – und dort vor allem in Deutschland und den Niederlanden – an die 600 Jahre lang gespielt worden.
Woher kriegen Sie die Figuren für das rekonstruierte Kurierspiel?
Ich habe sorgfältig jeden Stein, den van Leyden in seinem Gemälde zeigt, analysiert. Danach habe ich Modelle angefertigt. Ein alter Kunsthandwerker in Kalifornien hat die Entwürfe dann in entsprechende Formen gegossen.
Ein aufwändiges Projekt. Wie viele Leute arbeiten für Sie?
Noch schmeiße ich den Laden ganz allein. Ich habe bildende Kunst studiert und bin mehr Enthusiast als Geschäftsmann. Selbstverständlich möchte ich auch profitabel werden. Aber bislang muss ich mein Einkommen noch als Webdesigner oder als Pianist aufbessern.
Weitere Infos: ancientchess.com
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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