- Kultur
- 8. ND-Lesergeschichten-Wettbewerb
Vom Eise befreit ...
Gudrun Baruschka aus Stendal (1. Platz)
Herrje, der »Osterspaziergang« vom alten Goethe! Keine Familie hierzulande kam an ihm vorbei. Und meine im ganz Besonderen nicht.
Eine tolle Deutschlehrerin hatte ich damals in meiner eigenen Schulzeit. Ich liebte ihren Literaturunterricht. Gedichte und Balladen auswendig zu lernen, vor anderen vorzutragen, das fiel mir ausgesprochen leicht. Und »Vom Eise befreit sind Strom und Bäche ...« war Pflicht in der Oberstufe. Wie gesagt, für mich eine angenehme.
Der Strom meines Lebens mündete viele Jahre später in eine große Familie. Ehemann, Tochter, zwei Söhne, Haustiere, Garten, Wohnhaus, Beruf. Schulzeit von damals – brauchste nie wieder. Dachte ich.
Aber an irgendeinem Tag hatte mich der »Osterspaziergang« zurück. »Mutti, wir müssen Goethe auswendig lernen«, sagte meine Tochter. War ein bisschen geknickt. Soviel Text.
Ich half, und wir gingen gemeinsam in unserem langen Wohnungsflur auf und ab, sprachen laut Strophe für Strophe. Schlugen, wenn wir stecken blieben, im Lesebuch nach und wanderten murmelnd weiter. In Bewegung lässt sich immer leichter was merken. Um den Spaß nicht zu verlieren, balancierten wir abwechselnd das Lesebuch beim Gehen auf unseren Häuptern und kicherten, wenn's abstürzte.
»Was macht'n ihr da?«, fragte der Jüngste, der plötzlich mit seinem Legobaukasten im Arm um die Ecke bog. »Is' Schule. Is' wichtig. Stör nicht. Da biste noch zu klein zu.«
Die Tochter hatte aber nicht mit dem Reiz zukünftiger Schulzeit gerechnet. Der Kleine blieb. Und fragte neugierig: »Was is'n holder Blick?«
»Na'n schöner.« Die Tochter verdrehte die Augen. »Und wer ist denn der Herr? Etwa Herr Sack, der Hausmeister vom Kindergarten?«
Ich hatte etwas Mühe, ihm die Sache mit Gott verständlich zu machen. Und dann kam noch: »Stimmt's, Papa is doch auch ein Handwerker.« »Ja, mein Sohn.«
»Und is er auch in 'ner Bande? So richtig mit Geheimsprache?«
Oh je, dieser Junge übertraf sich wieder einmal selbst! Tochter und Mutter brauchten eine Weile, ehe er wieder ruhig mit seinen Legosteinen spielte. Dennoch sah und hörte er aufmerksam zu. Wie aufmerksam, erwies sich ein Jahr später.
Das mittlere meiner Kinder kam in die Küche. Missmutig. »Muss'n Gedicht lernen bis Freitag. Kannste mich abhören, Mama?« Klar konnte ich.
Er rezitierte »Vom Eise befreit sind Strom und Bäche ...« War noch stockend, unbetont. Und so arbeiteten wir die nächsten Nachmittage daran.
Die Zimmer meiner Jungs lagen nebeneinander. Die Türen meist offen. Als dann wieder ein Strophenbeginn fehlte, kam umgehend aus dem Nachbarraum: »Kehre dich um, von diesen Höhen ...«
Ich schaute überrascht nach nebenan. Auf dem Teppich hockend, wühlte der Bruder in bunten Legosteinen und schaute kaum auf. Jedoch klang immer mal sein aufmunterndes, weiterhelfendes Stichwort herüber, bis alles saß und der bedrohliche Freitag seinen Schrecken verlor.
Vergehende Zeit in einer großen Familie ist kaum greifbar, doch einmal noch musste ja sein, dass ein Kind mir zuflüsterte: »Mutti, morgen soll ich den ›Osterspaziergang‹ vor der Klasse aufsagen.« Du meine Güte, Morgen schon! »Kind, warum hast du das denn nicht früher gesagt!« »Wieso – kann ich doch schon lange «
Wir beide haben dann wirklich nur noch ein bisschen an seiner Betonung gefeilt, und dass er die Verse nicht gar so rasch herunterspricht.
Nun, Sie ahnen es sicher. Jeder von uns Vieren ist für seinen Vortrag des »Osterspaziergangs« jeweils mit einer Eins belohnt worden. Beim Aufschreiben dieser Zeilen allerdings stellt sich noch eine ganz andere Frage: Wie war das eigentlich damals, als mein Mann noch zur Schule ging? Da müssen wir ihn mal fragen ...
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