Spurensuche in Göttingen
Ursache der Bombenexplosion, die drei Sprengstoffexperten tötete, ist unklar
Die Detonation war in der ganzen Stadt zu hören. Am Dienstagabend um kurz nach halb zehn explodierte auf dem Göttinger Schützenplatz eine Zehn-Zentner-Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg. Drei Polizisten starben, zwei weitere erlitten schwere Verletzungen – die Mitglieder des niedersächsischen Kampfmittelbeseitigungsdienstes hatten den Blindgänger entschärfen wollen. Vier weitere Menschen wurden leicht verletzt.
»Göttingen steht unter Schock, Göttingen trauert.« Detlev Johannson stand das Entsetzen über die Geschehnisse gestern Mittag noch ins Gesicht geschrieben. Die ganze Nacht über hatte der Sprecher der Stadtverwaltung Journalistenanfragen aus dem In- und Ausland beantwortet, den städtischen Internetauftritt aktualisiert, eine Pressekonferenz organisiert.
Dabei blieb die drängende Frage offen, wie es zu dem Unglück kommen konnte. Zunächst stand nur fest, dass die Bombe schon bei den Vorbereitungen zur Entschärfung detonierte. Diese sei für 22.45 Uhr geplant gewesen, sagte Göttingens Polizeipräsident Robert Kruse. Um 21.36 Uhr habe sich dann die Explosion ereignet.
Die Getöteten hatten sich in unmittelbarer Nähe der Bombe aufgehalten. Sie waren 55, 52 und 38 Jahre alt, erfahrene Beamte und zuvor schon an Hunderten Bombenentschärfungen beteiligt, wie der nach Göttingen geeilte Landesinnenminister Uwe Schünemann (CDU) berichtete. Eine Sonderkommission mit 25 Polizisten soll das Unglück nun weiter untersuchen. Und dabei auch klären, ob der Einsatz eines neuen, ferngesteuerten Gerätes zur Bombenentschärfung die Explosion ausgelöst oder zumindest mit verursacht hat.
Die detonierte Bombe verfügte über einen Säurezünder, der schwieriger zu entschärfen ist als herkömmliche Zünder. Mit einem neuartigen Wasserstrahl-Schneidegerät sollte der Kopf des Zünders unter hohem Wasserdruck abgetrennt werden.
Die Polizei in Niedersachsen hat das Gerät erst vor kurzem angeschafft. »Das Wasserstrahlverfahren wird seit 2009 bei Bombenentschärfungen praktiziert«, sagte der Präsident des Zentralen Polizeidienstes, Christian Grahl. Dieser Behörde sind die Einsatzgruppen des Kampfmittelbeseitigungsdienstes unterstellt. Vor der Anwendung in Göttingen habe es bereits drei oder vier Einsätze des Roboters bei Bombenfunden gegeben. Zuletzt am vergangenen Donnerstag, als eine erste Bombe auf dem Schützenplatz erfolgreich entschärft werden konnte.
Berichte über weitere Bombenfunde bestätigten sich im Verlauf des Tages nicht. Es gebe zwar Verdachtsflächen, aber keine konkreten Hinweise, sagte Göttingens erster Stadtrat Hans-Peter Suermann. Bei Anwohnern hinterließen die Aussagen ein mulmiges Gefühl: Flugzeuge der Alliierten hatten im Zweiten Weltkrieg in Göttingen die wichtige Nord-Süd-Bahnlinie angegriffen und dabei wohl irrtümlich auch eine unbekannte Anzahl Bomben auf den nahen Schützenplatz geworfen.
Kamerateams hasteten gestern durch die Stadt zum Explosionsort. Der Schützenplatz, auf dem die Zehn-Zentner-Bombe bei Bauarbeiten für eine neue Sportarena entdeckt worden war, war mit Flatterband abgesperrt. »Das ist kaum zu fassen«, sagte der Rentner Gustav P. an der Absperrung.
Fast flüsternd erzählte der 67-Jährige, wie er am Vorabend in einer zum Notquartier umfunktionierten Schule von den schrecklichen Ereignissen erfahren hatte. »Man hat noch mit den Nachbarn gescherzt, da kam plötzlich ein Herr vom Roten Kreuz, der uns erzählte, dass die Bombe hochgegangen ist und dass es Tote gab.« Zuerst habe keiner der Evakuierten, die wegen der angekündigten Sprengung des Blindgängers ihre Häuser verlassen mussten, die Nachricht glauben wollen. Dann habe sich Entsetzen breit gemacht, Kinder hätten geweint.
Zwei Schulen, ein Kindergarten und eine Fabrik, die in einem 300-Meter-Umkreis um den Schützenplatz liegen, bleiben zunächst bis Donnerstag geschlossen. Die Bombenexplosion wird noch länger ein Thema bleiben. Bis gestern Nachmittag hatten sich an die 200 Leser in das virtuelle Kondolenzbuch der Lokalzeitung eingetragen.
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