Tiere, Tod und tausend Gründe
Tradition und Gewohnheit des Fleischessens sind die hartnäckigsten Wurzeln der Missachtung der Interessen von Milliarden Kreaturen
»Dass Menschen sterben, damit werden wir in den Medien überflutet, das berührt uns schon gar nicht mehr. Wir müssen nur die Zeitung aufschlagen und sehen Tote. Das Sterben der Tiere ist eine andere Sache. Das ist ein Tabu, das wird so gut wie nie gezeigt.« So der italienische Fotograf Tommaso Ausili, über dessen Bildserie »Der versteckte Tod« kürzlich im deutschen Fernsehen ein Film lief.
In der Tat: Sterben und Tod von Menschen sind in den Medien täglich, ja, stündlich präsent. In Reportagen von Kriegsschauplätzen, in Berichten von Hungergebieten, in Meldungen über Gewaltverbrechen, in Spielfilmen, TV-Serien sowie in zahllosen Büchern und Zeitschriften. Trotz einer medialen Faszination, trotz literarischer Überhöhung oder cineastischer Ästhetisierung – Sterben und Tod werden eindeutig auf die Schattenseite, Töten und Getötetwerden fast immer auf die Unrechtsseite unseres zivilisatorischen Daseins verwiesen. Das alttestamentarische Gebot »Du sollst nicht töten« sorgt trotz seiner unablässigen Geringschätzung und Verletzung im Krieg und in gewaltsam ausgetragenen Konflikten dennoch für ziemlich klare ethische Fronten.
Ein Blutbad von globalen Dimensionen
Aber: »Das Sterben der Tiere ist eine andere Sache.« Da hat Tommaso Ausili zweifellos recht. Er meint jenes Sterben, vor dem in der Kausalkette das Töten und Tötenlassen durch den Menschen steht, die milliardenfache Missachtung des biblischen Gesetzes, weil dieses mit Bezug auf Tiere nichts gilt. Nichts gelten darf, weil sonst eine tragende Säule der abendländischen Kultur zu bröckeln begänne, die Säule der Schlachthauskultur. Stattdessen werden tausend Gründe zur Rechtfertigung dieser Diskriminierung bemüht.
Rund fünf Milliarden Tiere (ohne Wassertiere) werden in der Europäischen Union jedes Jahr für den Verzehr geschlachtet: Schweine, Rinder, Schafe, Kaninchen, Hühner ... Jeder Deutsche verspeist in seinem Leben durchschnittlich 1094 Tiere. Im vergangenen Jahr ist in den deutschen Schlachthöfen so viel Fleisch verarbeitet worden wie noch nie zuvor. Die Menge stieg gegenüber 2008 um 2,5 Prozent auf 7,7 Millionen Tonnen. Dafür mussten unter anderen 56 Millionen Schweine und 3,8 Millionen Rinder ihr Leben lassen.
Auf internationaler Ebene legte jetzt die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO eine Prognose vor, laut der die weltweite Fleisch-»Produktion« von derzeit 228 Millionen Tonnen auf 463 Millionen Tonnen im Jahr 2050 steigt. Tonnen. Die einzelne Kreatur zählt längst nicht mehr bei solcher Gigantomanie. Die FAO warnt angesichts dieser Entwicklung vor Umweltzerstörung, Klimaschäden und Krankheiten. Vom Leid der Tiere, von Zerstörung der Humanitas angesichts eines andauernden, globalen Blutbades ist nicht die Rede.
Töten und Sterben in Schlachthöfen und Tierfabriken sind untrennbar verkettet mit der in den reichen Industrieländern dominierenden Lebensweise, mit deren Ausbreitung über die Welt. Eben darum ist es »ein Tabu, das wird so gut wie nie gezeigt«.
Als die Leipziger Oper vor zwei Jahren in Richard Wagners »Fliegendem Holländer« per Video Schlachthofszenen einspielte, empörte sich das Publikum lautstark und es gab Strafanzeigen gegen das Theater. Ähnlicher Protest wäre vermutlich ausgeblieben, wenn Sequenzen von Kriegsschauplätzen eingespielt worden wären.
Indes kann man davon ausgehen, dass die Zuschauer das Abschlachten von Menschen ebenso abscheulich finden wie das Niedermetzeln von Tieren. Nur: Während die Ablehnung des Krieges keinen Widerspruch zum normalen Leben darstellt, ist das Schlachthaus ein Teil davon. Ein Teil, der erbittert verdrängt wird.
Selbstverständlich wissen heute alle Bescheid. Auch wenn die Fleischindustrie Massenhaltungsanlagen und Schlachthöfe »unsichtbar« macht, sie in Randgebieten und außerhalb von Bevölkerungszentren betreibt, um die »Verbraucher« nicht bei jedem Bissen daran zu erinnern, dass das Fleisch, dessen Verzehr »natürlich« sein soll, von einem Ort kommt, der keinen »natürlichen« Tod kennt. Es gibt genügend Berichte und Informationen, die Print- und elektronische Medien und vor allem das Internet über die grauenvollen Zustände in den Tierfabriken zur Verfügung stellen.
Es gibt kein Nichtwissen. Nur ein Nichtwissenwollen. Ein uralter Mechanismus, der auch Friedrich Nietzsche beschäftigte. Der Denker hatte kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch im Jahr 1889 erwogen, ein Werk mit dem Titel »Philosophie des verbotenen Wissens« zu verfassen.
Dabei hatte Nietzsche nicht jenes Wissen im Auge, dessen Verbreitung Autoritäten oder Herrschende zu unterbinden versuchen, sondern Wissen, vor dem sich die Mehrheit der Menschen selbst zu schützen trachtet, »weil das Übertreten dieses Verbotes tatsächlich die Vertreibung aus dem Paradies einer selbstillusionären Gewissheit bedeuten muss«, wie der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann schreibt. Zweifellos gehört das Wissen um das »Produkt Fleisch« dazu. Wer zu viel weiß, dem kann dieses Wissen nachhaltig den Appetit verderben. Hinzu kommt die Empathie, die Fähigkeit, sich in andere Wesen hineinzuversetzen. Eine natürliche Eigenschaft des Menschen, die immer wieder für innere Konflikte sorgt, wenn der Mensch konfrontiert wird oder sich selbst konfrontiert mit dem elenden Leben und Sterben der Kreaturen.
Doch zurück zu Tommaso Ausili, der nämlich aus der Tatsache des Tabus um das Sterben der Tiere eine bemerkenswerte Konsequenz zog: »Deshalb wollte ich mit eigenen Augen sehen, wie das vor sich geht: das Töten eines Tieres.«
Ein mutiges Vorhaben. Auch wenn heute nicht mehr jene Zustände herrschen, wie sie Upton Sinclair noch vor gut 100 Jahren in seinem Roman »Der Dschungel« schilderte oder wie sie Wladimir Majakowski 1925 nach einer Besichtigung der Schlachthöfe von Chicago resümierte: »In den Schlachthäusern verweilt man nicht, ohne dass Spuren zurückbleiben. Hat man in ihnen gearbeitet, so wird man entweder Vegetarier oder man tötet kaltblütig Menschen, wenn man es satt hat, sich im Kino zu amüsieren.«
Ausili, der einen Schlachthof in Umbrien besuchte, »war geschockt« – wie vermutlich jeder Mensch, der nicht völlig abgestumpft ist. Der Rat des Tierarztes: Er solle die Tiere nicht mit Menschen verwechseln. Auch wenn sie wahrnähmen, dass etwas geschieht – Gefühle entstünden daraus nicht. Je länger Ausili allerdings fotografierte, desto mehr zweifelte er an der Gefühllosigkeit der Kreaturen: »Ich habe gesehen, wie unterschiedlich die Tiere in den Tod gehen. Manche schienen zu weinen, andere kämpften, wollten fliehen, wieder andere wirkten geradezu stoisch. All das kommt mir sehr menschlich vor.«
Zu welchen Schlussfolgerungen gelangt ein Mensch, der in diese Tierhölle geblickt hat? Lehnt er hinfort das Töten ab und damit das Essen von Fleisch? Ausili will nicht, dass seine Fotos derlei bewirken: »Aber dieser Fleischgenuss muss verantwortungsbewusst sein. Wir sollten nur das essen, was wir wirklich brauchen. Die Fleischindustrie produziert viel zu viel.« Mit anderen Worten: Es ist grundsätzlich in Ordnung, dass Tiere leiden und sterben für die »Produktion« von Fleisch. Wenn es ein paar weniger sind, ist der Ethik hinreichend Genüge getan.
Abgesehen davon, dass ein solcher Wunsch allen Statistiken hohnspricht: Die geistige Verdrängung von Elend und Grausamkeit ist immerhin Ausdruck eines inneren Konflikts, eines Gewissenskampfes. Die bewusste Akzeptanz und Billigung derartiger, angeblich unveränderbarer Zustände als sittlichen Fortschritt hinzustellen, ist hingegen geeignet, noch diese letzte Bastion moralischer Resistenz einzureißen. Eine solche Strategie tastet den Status quo der Fleischindustrie nicht an und wird deshalb von dieser durchaus goutiert.
Die Leipziger Fotografin Silvia Hauptmann, die ebenfalls in einem Schlachthof – in Thüringen – fotografierte (siehe das Bild auf dieser Seite), meint indes: »Mit der Reduzierung der Opferzahl nehme ich dem Ganzen nicht den Schrecken und die menschliche Gewalt.«
Das Gleichheitsprinzip ist ein sicherer Sensor
Schrecken und Gewalt. Sichtbar und erfahrbar sind sie an den Fleischtheken der Kaufhallen ebenso wenig wie auf den Grillplätzen der Stadtparks oder in den Gourmettempeln der Gastronomie.
Ist es da nicht zu begrüßen, dass die bekannte Fernsehköchin Sarah Wiener eine neue Form von Erziehung zu Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit (toten) Tieren zelebriert? Für eine Kochsendung des TV-Senders »Arte« nahm sie Kinder mit zum Schlachten von Kaninchen. Dem »Reader’s Digest« sagte Wiener: »Wenn Sie einmal selbst einem Huhn den Hals umgedreht haben, dann werfen Sie kein Hühnerbeinchen mehr in den Müll! Ich halte es für extrem wichtig, das gerade Kindern zu zeigen. Ich möchte ihnen vermitteln, wie wertvoll so ein Tier ist.« Die Frau meint es tatsächlich ernst: Der Wert eines Lebewesens soll dadurch vermittelt werden, dass man ihm persönlich den Hals umdreht oder die Kehle durchschneidet.
»Wie viele unter uns gibt es schon jetzt, die niemals Fleisch äßen, wenn sie selber das Messer in die Kehle der betreffenden Tiere stoßen müssten!« Das schrieb die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner (1843-1914). Doch bei Wieners Schocktour geht es eben nicht darum, sensible Menschen, namentlich Kinder, vom Fleischessen abzubringen, sondern darum, eine natürliche Abwehrhaltung zu neutralisieren, sie in ein »verantwortungsbewusstes« Essverhalten zu integrieren.
Tradition und Gewohnheit des Fleischessens sind zweifellos die hartnäckigsten Wurzeln der Missachtung tierlicher Interessen. Fleischessende Menschen sind bei der ethischen Beurteilung von Tieren befangen. Sie weigern sich meist, in deren »schmerzloser« Tötung überhaupt ein moralisches Problem zu sehen. Zugleich sind immer weniger Menschen bereit, Tiere eigenhändig umzubringen. Dies wäre auch gar nicht möglich, insbesondere in den Großstädten. Trotzdem werden immer mehr Tiere für den Konsum getötet.
Der US-amerikanische Philosoph Mark Rowlands meint, »dass der größte Teil des von Menschen bewirkten Bösen nicht von Heimtücke, sondern von dem Unwillen herrührt, seine moralische und epistemische Pflicht zu erfüllen«. Die Philosophie versteht unter epistemischer Pflicht die Aufgabe, Überzeugungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen, ob sie aufgrund des verfügbaren Beweis- und Indizienmaterials weiter gerechtfertigt sind. Beispielsweise durch die Frage, ob der Verzicht auf Fleisch bei sich selbst und anderen Wesen Leiden erzeugen würde, die größer wären als die Qualen der gemetzelten Tiere.
Es gibt ein einfaches Prinzip für die Gewichtung unseres Tuns im Umgang sowohl mit Menschen wie mit Tieren: Das Gleichheitsprinzip. Formuliert hat es der australische Philosoph Peter Singer. Es besagt, »dass wir in unseren moralischen Überlegungen den ähnlichen Interessen all derer, die von unseren Handlungen betroffen sind, gleiches Gewicht geben«. Singer: »Bürger der industrialisierten Gesellschaften können sich ohne Weiteres angemessene Nahrung verschaffen, ohne auf tierisches Fleisch zurückzugreifen.« Der grundsätzliche Wahrheitsgehalt dieses Satzes wird in der Praxis durch Millionen Vegetarier und Veganer bestätigt. »Betrachten wir den moralischen Aspekt der Nutzung von Tieren als Nahrung in industrialisierten Gesellschaften, so haben wir eine Situation vor uns, in der ein relativ geringes Interesse der Menschen gegen das Leben und Wohl der betroffenen Tiere abgewogen werden muss. Das Prinzip der gleichen Interessenabwägung gestattet es nicht, größere Interessen für kleinere Interessen zu opfern.«
Der österreichische Philosoph Helmut F. Kaplan, der in seinem neuesten Buch »Ich esse meine Freunde nicht oder Warum unser Umgang mit Tieren falsch ist« dem Gleichheitsprinzip ein Kapitel widmet, zeigt, dass die Umsetzung dieses Prinzips kaum an seiner Kompliziertheit scheitern dürfte. Denn »der Fall, dass die von unseren Handlungen Betroffenen tatsächlich ähnliche Interessen haben, ist eher die Ausnahme«. So seien die von der Handlung Fleischessen berührten Interessen »bei Tieren viel größer als beim Menschen. Während es beim Menschen lediglich um einen kurzen Gaumenkitzel geht, geht es bei Tieren buchstäblich um alles.«
Keine universale Ethik ohne Tierrechte
Vor vier Jahren veröffentlichte »Neues Deutschland« ein Interview mit dem ehemaligen italienischen Partisanen Rosario Bentivegna. Der 1922 geborene Kommunist, der einst als Kopf der Stadtguerilla GAP den Widerstand gegen die deutschen Besatzer organisierte, sagte neben vielem anderen Bemerkenswerten, er fühle sich »mit allen Menschen und auch mit den Tieren solidarisch«.
Linke Parteien und Bewegungen tun sich gewöhnlich schwer mit einer solchen solidarischen Einbeziehung der Tiere. Aber Menschenrechte und Tierrechte sind keine gegensätzlichen Entwürfe. Gemeinsam, und zwar nur gemeinsam, repräsentieren sie das Konzept einer universalen, wahrhaft humanistischen Ethik. Einer Ethik, die nicht auf Herrschaft setzt, sondern auf Befreiung. Denn man kann nicht einerseits die Befreiung des Menschen von ökonomischen, politischen, geistigen, kulturellen und sonstigen Fesseln propagieren und andererseits das Elend, das Leid, die Qual, den Tod von zahllosen nichtmenschlichen Wesen hinnehmen – oder gar als Konsument in Auftrag geben.
ND-Redakteur Ingolf Bossenz moderiert am 19. Juni, 11.15 Uhr, auf dem Fest der Linken / ND-Pressefest in der Kulturbrauerei Berlin die Podiumsdiskussion »Elend ohne Ende? – Der Kampf um Tierschutz und Tierrechte«.
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