Sportlicher »Geheimdienst-Skandal«
Leipziger Turnfest-Cheforganisator »beurlaubt«: NVA-Aufklärer aus Überzeugung
Was das für welchen Zeitraum konkret bedeutet, wurde Mattausch nicht angedeutet. Wenn es nach ihm ginge, könnte diese »Überprüfung« jedoch recht schnell gehen. Denn die Fakten, die die Tageszeitung »Die Welt« da gestern anführte, bestätigte er auch gegenüber ND im Wesentlichen: »Ich habe zwar selbst meine Unterlagen von der "Birthler-Behörde" auch nach Jahren noch nicht erhalten, aber faktisch stimmt das so etwa, was diese Zeitung, die wohl bessere Behördenbeziehungen hat als ich, da schreibt.«
Mattausch, beruflich einst Professor an der Deutschen Hochschule für Körperkultur und in den letzten DDR-Jahren auch ihr Prorektor, versorgte demnach DDR-Militäraufklärer mit relevanten Informationen, an die er auf Auslandsreisen herankam. »Dazu hatte ich mich zwar nie schriftlich verpflichtet«, sagte Mattausch ND auf Nachfrage. »Aber zu der Motivation, die mich dazu veranlasste, auf diese Weise als Reserveoffizier tätig zu werden, stehe ich nach wie vor: In der Zeit des Kalten Krieges hielt ich es für wichtig, dass man wusste, was wo mit Raketenstellungen und -bewegungen los war.« Und aus damaliger wie heutiger Sicht habe das, was er lieferte, »ja auch irgendwie zur Sicherung des Friedens beigetragen«
Der Deutsche Turnerbund erklärte gestern in einer Pressemitteilung, dass Mattausch vor der Einstellung bei der »Gauck-Behörde« geprüft worden sei. Dabei hätten die Recherchen »keine bedenklichen Fakten« ergeben. Die Sächsische Staatsregierung wollte am Montag keine Stellungnahme abgeben. Eine Sprecherin der Staatskanzlei verwies darauf, dass das Turnfest in alleiniger Regie des Turnerbundes veranstaltet werde.
In der Leipziger Stadtverwaltung äußerte sich gestern ND gegenüber keiner konkret, warum man dem Turnerbund lediglich auf der Grundlage eines Pressebeitrages empfohlen hat, Mattausch zu beurlauben. Die »Dokumente«, von denen »Die Welt« berichtete, dass sie ihr vorlägen, kannte man in Leipzig gestern jedenfalls noch nicht. Stattdessen versuchte Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee am Nachmittag Mattaus gesamten Mitarbeiterstab, der sich mit ihm offen solidarisch zeigte, mit der Bemerkung zu beschwichtigen: »Ich bitte Sie um Verständnis für die Entscheidung, die nichts mit der Person zu tun hat, sondern nur mit den Vorwürfen.«
Dass die Stadt Leipzig so rigide und überhastet reagierte, wollte Mattausch gegenüber ND nicht kommentieren. Er hätte das allerdings »nach jahrelanger gedeihlicher Zusammenarbeit so nicht erwartet« und er fühle sich »doch schon irgendwie als ein Bauernopfer«.
Wofür er geopfert werden soll, liegt für Beobachter der Leipziger sportpolitischen Szene auf der Hand. Ebenso, warum der Zeitpunkt des »Geheimdienst-Skandals«, wie sogar die »dpa« gestern glaubte titeln zu müssen, manchem in dieser Republik sehr zu passe kommen dürfte:
Leipzig bewirbt sich bekanntlich in der internen innerdeutschen Auswahlrunde darum, Olympiastadt 2012 zu werden - zusammen mit Düsseldorf, Frankfurt (Main), Hamburg und Stuttgart. Morgen ist Abgabetermin der Bewerbungsunterlagen beim Nationalen Olympischen Komitee...
Indirekt zur Bewerbung gehört natürlich auch das Ereignis Deutscher Turnertag. Nun ist das NOK zwar eine in der Regel eher nüchtern urteilende Institution, und es wird zur deutschen Bewerberstadt erst im Juni 2003 entscheiden. Doch dass Leipzig im Zusammenhang mit diesem nationalen Turnertag von den ja nicht ganz einflusslosen Springer-Medien das »Stasi«-Etikett angepappt bekommt, könnte Langzeitwirkung haben.
Dr. Volker Külow, Leipziger PDS-Vorsitzender, verweist gegenüber ND darauf: »Mit der Schürung von Ost-West-Ressentiments durch den gleichen Journalisten, der bereits die angebliche Stasi-Verstrik-
kung des MDR "enthüllte", wird politische Brunnenvergiftung betrieben. Wenn der Leipziger Beigeordnete Burkhard Jung glaubt, mit der Suspendierung des Geschäftsführers Prof. Volker Mattausch aus der konservativen und zugleich anti-ostdeutschen Schusslinie zu gelangen, befindet er sich auf dem Holzweg.«
Mit dieser Einschätzung dürfte Külow nicht ganz falsch liegen. Immerhin teilte erst gestern kein Geringerer als Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) der westdeutschen Elite per »F.A.Z.« mit, dass der Sport in der DDR »fast als Ersatzkriegshandlung missbraucht« und die »Vereinskultur reduziert und politisch ideologisch überformt« worden sei.
Kein Wunder, dass natürlich auch die Friedensfahrt davon heute noch infiziert ist. Gesternabend meldete besagte »Welt« vorab gleich zwei neue Ex-Stasi-Mitarbeiter vom Course de la Paix.
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