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Sexismus am Brett: Männliche Anfeindungen auch beim Tata Steel
Im Schach dominieren die Männer – weil Frauenfeindlichkeit in diesem Sport immer noch System hat
Aus welchen Gründen auch immer Schach als »Gentleman’ Sport« gilt, mit Blick auf die jüngste Geschichte ist das kaum nachvollziehbar: Seit dem Boom zu Beginn der Pandemie gibt es quasi wöchentlich einen Skandal, ständig brennt irgendwo ein Baum. Die Netflix-Serie »The Queens Gambit«, die maßgeblich zum jetzigen Erfolg beigetragen hat, war als Drama angelegt – eine Fortsetzung wäre durchaus als Soap Opera denkbar.
Oft geht es bei diesen Skandalen um gekränkte Egos und verletzte Eitelkeiten. Oder wie in der Auseinandersetzung zwischen Magnus Carlsen und dem Weltverband Fide ums Geld. Manchmal aber geht es auch um Grundsätzlicheres, wie gerade im kleinen Städtchen Wijk aan Zee. Da trafen im Rahmen des Tata Steel Challengers der Goldmedaillengewinner der Schacholympiade 2022, Nodirbek Yakubboev, und die indische Weltklassespielerin Vaishali Rameshbabu aufeinander. Yakubooev verweigerte seiner Kontrahentin vor dem Spiel den obligatorischen Handschlag. Davon relativ unbeeindruckt fegte ihn Rameshbabu daraufhin vom Brett. Später begründete Yakubboev sein Verhalten mit seinem Glauben: Schach sei nicht »harām«, eine Ansicht, zu der es eine weitreichende Kontroverse zwischen islamischen Gelehrten gibt. Es sei ihm daher nicht erlaubt, Frauen anderen Glaubens zu berühren. Zum Affront macht sein Verhalten, dass er seine Gegnerin nicht vorab informierte und sich auch keine alternative Begrüßung als Geste der Wertschätzung überlegte.
Das Turnier in Wijk aan Zee ist nach der Schach-WM und dem Kandidatenturnier das bedeutendste des Jahres, es wird auch »das Wimbledon des Schachs« genannt. Es ist in mehrere Sektionen unterteilt: Im Masters trifft die Weltspitze aufeinander, im Challengers misst sich die erweiterte Elite, darunter aufregende, meist auch sehr junge Spieler wie der erst zwölfjährige Faustino Oro, der wahlweise als Wunderkind oder wegen seiner argentinischen Herkunft als »Messi des Schachs« betitelt wird.
In diesem Jahr sind neben Vaishali Rameshbabu drei weitere Frauen im Challengers am Brett: die erst 14-jährige Lu Miaoyi aus China, Irina Bulmaga und Divya Deshmukh. Während Deshmukh und Bulmaga ein durchwachsenes Turnier spielen, finden sich Rameshbabu und Lu Miaoyi drei Spielrunden vor Schluss im gesicherten Mittelfeld wieder, haben mit dem Turniersieg aber nichts mehr zu tun. Doch allein schon ihre Teilnahme ist ein Erfolg – weil sie Frauen im Schach normalisiert.
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Es ist immer noch selten im Schach, dass Frauen in offenen Turnieren antreten. Und tatsächlich schaffte es in der jüngeren Geschichte nur eine Frau in die Top Ten der Welt: die legendäre Judit Polgar. Die aktuell beste Frau im Schachspiel, Hou Yinfan aus China, befindet sich aktuell auf Platz 106 der Weltrangliste. Sie ist neben Polgar und Maia Chiburdanidze die erst dritte Spielerin, die seit Einführung der Elo-Weltrangliste in die Top 100 vorstoßen konnte. Das wirft die Frage auf, welche Strukturen im Spitzensport verhindern, dass Frauen zu dominierenden Figuren werden. Gerade auch, weil Vaishali Rameshbabus jüngerer Bruder Rameshbabu Praggnanandhaa beim Tata-Steel-Tunrnier eine Liga höher im Masters antritt und sogar noch Chancen auf den Turniersieg hat.
Anders als in den meisten Sportarten sind im Schach bisher noch kaum entwicklungsbiologische Faktoren angeführt worden, um diese Differenz zu erklären. Eine besonders lustige Theorie aus dem 19. Jahrhundert besagt, dass männliche Gehirne im Intellekt variabler seien, sich also die Bandbreite an Intelligenz über einen größeren Bereich erstreckt. Das würde bedeuten, dass es zwar mehr männliche Genies gäbe, aber auch sehr viele Männer mit beschränkteren kognitiven Fähigkeiten. Wer allerdings schon einmal Schachgroßmeister über Sachverhalte jenseits ihres Sportes hat reden hören, wird bezweifeln, dass es sich hier generell um Genies handelt.
Einer der näherliegenden Gründe für die Abwesenheit von Frauen in der Weltspitze offenbart sich in einem Fall, der sehr viel krasser ist als Yakubboevs Feindseligkeit gegenüber Vaishali Rameshbabu. Der Lette Andrejs Strebkovs verschickte über einen Zeitraum von zehn Jahren pornografische Bilder und benutzte Kondome an teilweise minderjährige Schachspielerinnen. Erst als bekannte Schach-Streamerinnen auf diese systematische sexuelle Belästigung aufmerksam machten, intensivierte die Fide ihre Untersuchungen. Nun ist Strebkovs nicht nur für zwölf Jahre von allen offiziellen Turnieren ausgesperrt, sondern verlor auch seinen Titel als Internationaler Meister.
Fide-Präsident Arkady Dvorkovich kommentierte das Urteil der Berufungskammer der Ethik- und Disziplinarkommission des Weltverbandes in dieser Woche salbungsvoll: Sein Verband setze »sich für den Schutz der Rechte und der Würde aller Spieler ein, insbesondere von Frauen und Minderjährigen, die sich in unserer Gemeinschaft sicher und respektiert fühlen müssen«. Wobei damit nicht gesagt sein soll, dass es sich bei der Fide um eine feministische Organisation handelt: 2021 noch hatte der Verband Motiva als neuen Hauptsponsor vorgestellt – ein Unternehmen, das auf Brustvergrößerungen spezialisiert ist.
Eine misogyne und sexistische Grundstimmung im Schachsport ist nicht zu leugnen. Untermauert wird dies durch Studien, die zeigen, dass Frauen besser performen, wenn sie nicht wissen, dass sie gegen Männer antreten. Noch interessanter ist die Frage, warum so wenige Frauen überhaupt Schach spielen: In den USA beispielsweise beträgt der Anteil weiblicher Spieler aktuell 13 Prozent. Der US-Verband ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass viele Verbände zwar behaupten, für das Wohlergehen und die Unversehrtheit von Spielerinnen einzustehen, es aber in letzter Konsequenz nicht tun. 2023 machte die Leiterin des US Chess Women’s Program, Jennifer Shahade, bekannt, dass der bestens vernetzte Großmeister Alejandro Ramirez sie zweimal sexuell bedrängt habe, dass seine Übergriffigkeit auch Minderjährigen gegenüber seit Jahren ein offenes Geheimnis sei und er trotzdem in offizieller Mission als Trainer des Frauenteams zur Schacholympiade entsandt wurde.
Die eingeleiteten Untersuchungen bestätigten die Vorwürfe. Dieser Skandal führte aber nicht nur dazu, dass Ramirez sich von all seinen Posten zurückzog. Auch Jennifer Shahade legte kaum ein halbes Jahr später ihr Amt nieder und verabschiedete sich vom US-Schach, weil sie, wie sie sagte, keinerlei Unterstützung von ihrem Verband erhalten habe, sondern stattdessen auf Feindseligkeit stieß. Wenn also Schach kein »Gentelman’s Sport« ist – ein männlich dominierter Sport ist er nach wie vor, allen Lippenbekenntnissen der Amtsträger zum Trotz.
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