- Politik
- Vorgezogene Parlamentswahlen in Niederlanden
Eine Parlamentswahl mit vielen Fragezeichen
Wirtschaftsthemen bestimmten den Wahlkampf / Aufstieg der Rechtspopulisten scheint vorerst gestoppt
Im Februar stand die bisherige konservativ-soziale Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten sowie der Christen Union unter Premierminister Jan-Peter Balkenende vor dem Aus. Vorausgegangen war ein Streit über eine Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes der niederländischen Armee, die die sozialdemokratische PvdA nicht mittragen wollte.
Alle Prognosen weisen auf eine deutliche Änderung der Kräfteverhältnisse hin: Nach acht Jahren und vier Kabinetten hat sich eine gewisse Müdigkeit eingestellt, die sowohl Balkenende als auch seine Partei betrifft. Der christdemokratischen CDA, vor vier Jahren noch stärkste Partei, wird ein Sturz von 41 auf 25 Sitze vorausgesagt. Damit läge sie nur noch auf dem dritten Platz. Schon bei den Kommunalwahlen im März hatten die Christdemokraten deutliche Verluste hinnehmen müssen.
An der Spitze der Umfragen steht seit Wochen die rechtsliberale Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) mit möglicherweise etwa 35 Sitzen, der in Wirtschaftsfragen seit jeher Kompetenz zugeschrieben wird. In einem von Verschuldungsdebatten und Eurokrise überschatteten Wahlkampf liegt ihr Programm offenbar im Trend: eiserne Haushaltsdisziplin, Steuererleichterungen und drastische Kürzungen. Ihr Spitzenkandidat Mark Rutte liegt gemeinsam mit dem Sozialdemokraten Job Cohen auch bei der Frage nach dem künftigen Premier vorne. Zugute kommt der VVD, die zudem auf eine drastische Beschränkung der Zahl »chancenarmer Migranten« setzt, dass sie als Oppositionspartei am Dauerstreit der alten Koalition nicht beteiligt war.
Die bisher regierende Partij van de Arbeid (PvdA) folgt mit rund 30 Sitzen. Die Sozialdemokraten, die im Vergleich zur VVD eher auf Kaufkraft setzen, blicken auf einen durchwachsenen Wahlkampf zurück: Als sie im März Job Cohen, zuvor Bürgermeister Amsterdams, unerwartet zum Spitzenkandidaten kürten, schossen ihre Umfragewerte in die Höhe. Der als Brückenbauer bekannte Jurist löste eine regelrechte Euphorie aus, die in dem Slogan »Yes we Cohen« gipfelte. Er galt als derjenige, der die Niederlande nach Jahren einer polarisierenden Islamdebatte versöhnen könnte. Dazu weckte Cohen im linken Lager Hoffnungen auf eine »möglichst progressive Koalition«. Unsichere Fernsehauftritte schienen aber auch einen anderen Teil seines Rufs zu bestätigen: den, just in Finanz- und Wirtschaftsfragen nicht allzu beschlagen zu sein. Dass die PvdA mehrmals Zahlen ihres Wahlprogramms korrigierte, verstärkte diesen Eindruck noch.
Noch hinter die Christdemokraten zurückgefallen ist inzwischen die Partij voor de Vrijheid (PVV) von Geert Wilders. Im Winter noch an der Spitze der Umfragen, fiel sie in vier Monaten von 30 auf rund 15 Sitze. Durch die Dominanz sozio-ökonomischer Themen konnte sie mit ihrer Botschaft von Islamisierung und Überfremdung nicht punkten. Viele Wähler dürfte sie daher an die VVD verlieren, die Wilders einst im Streit verließ. Dazu beigetragen hat auch, dass die PVV es trotz erfolgreichem Abschneidens bei den Kommunalwahlen im Frühjahr in keiner Gemeinde in die »Regierung« schaffte, weil sie über Forderungen wie ein Kopftuchverbot in öffentlichen Institutionen nicht verhandeln wollte. Dass mehrere PVV-Kandidaten nach Negativschlagzeilen von der Liste entfernt wurden, kam als Minuspunkt hinzu.
Nichts genutzt hat der wirtschaftslastige Wahlkampf der Socialistische Partij (SP), die 2006 mit 25 Abgeordneten noch drittstärkste Partei war. Zwar konnte sie zuletzt durch überzeugende TV-Auftritte ihres Spitzenkandidaten Emile Roemer einen leichten Anstieg verzeichnen, liegt aber dennoch nur bei 13 Sitzen. Um die zehn Sitze werden auch den linksliberalen D66 sowie GroenLinks vorhergesagt.
Ein Königreich für eine Mehrheit
Von Tobias Müller, Amsterdam
Insgesamt 75 Parlamentssitze – das ist die Mindestzahl, über die eine Koalition in den Niederlanden verfügen muss. In diesem Jahr könnte sie sich mehr denn je als Hürde erweisen.
Eine linke Koalition aus PvdA, Sozialisten, D66 und GroenLinks käme laut Umfragen auf 65. Selbst unter Beteiligung der sozialcalvinistischen Christen Union reichte es nicht für eine Mehrheit.
Knapp dürfte es auch für eine Rechts-Regierung werden. Ein Kabinett mit VVD, CDA und der Wilders-Partei PVV liegt bisher um die 75 Sitze. Allerdings ist eine Zusammenarbeit der Christdemokraten mit den Rechtspopulisten beinahe ausgeschlossen. Das gleiche gilt damit auch für eine Regierungsbeteiligung der PVV, die auch von allen anderen Parteien abgelehnt wird. Einzig die rechtsliberale VVD will sich zu dieser Frage nicht äußern. Höchst unwahrscheinlich ist nach dem Dauerstreit zwischen CDA und PvdA in der letzten Regierung zudem jede Variante einer Großen Koalition.
Die rechnerisch besten Chancen hätte zur Zeit eine Neuauflage der Koalition aus VVD, PvdA und D66, die bereits zwischen 1994 und 2002 unter Wim Kok die Regierung stellten. Eine Neuauflage läge laut Prognosen bei knapp unter 80 Sitzen. VVD- Chef Rutte hält indes wenig davon, mit der PvdA zu regieren.
Die Zahlen unterstreichen den Trend der fortschreitende Erosion fester Wahlmilieus in den Niederlanden. In den 80er Jahren reichten noch zwei Parteien aus, um eine Regierung zu bilden. Seit Mitte der 90er waren es jeweils drei. Offenbar sind jedoch auch diese Konstellation 2010 kein Garant mehr für eine Mehrheit.
Der abtretende Premier Balkenende spekulierte daher schon über ein Kabinett der »Reformbereiten«: VVD, Christdemokraten, GroenLinks und D66. Allerdings hätte auch diese bei kaum mehr als 80 Sitzen keinen allzu sicheren Stand. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt zudem, dass mehr Partner auch mehr Bruchlinien bedeuten.
Stichwort: Das Wahlsystem
Das Verhältniswahlrecht im Königreich der Niederlande soll das Votum der Bevölkerung so exakt wie möglich in der Zusammensetzung des Parlaments widerspiegeln. Eine Sperrklausel wie die Fünf-Prozent-Hürde in Deutschland gibt es nicht. Dadurch haben auch kleine Parteien Chancen, Mandate zu erringen. Um einen der 150 Parlamentssitze in der »Tweede Kamer« zu bekommen, muss jemand lediglich 0,67 Prozent der Wählerstimmen gewinnen. Das führt dazu, dass recht viele Parteien in der »Tweede Kamer« mitreden – derzeit sind es zehn – und dass sich die Regierungsbildung schwierig gestaltet.
Königin Beatrix beruft nach der Wahl einen »Informateur«, der Sondierungsgespräche führt. Erst wenn weitgehende Übereinstimmung herrscht, benennt sie einen »Formateur«. Er (oder sie) stellt dann das Kabinett zusammen und ist in aller Regel auch der/die neue Ministerpräsident/in. Das Verfahren führt dazu, dass die Regierungsbildung länger als anderswo dauert – im Durchschnitt der letzten Jahrzehnte 83 Tage. (dpa/ND)
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