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Ein verdrängtes »Alltagsphänomen«

Multimediale Bildungsmaterialien für Schulen zur NS-Zwangsarbeit entwickelt

  • Kai Walter
  • Lesedauer: 5 Min.
Auch heute gibt es noch immer weiße Flecken in der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte zwischen 1939 und 1945. Zwangsarbeit ist ein Thema, über das viele Menschen nicht gerne reden, weil es ein Unrecht war, das mitten im Alltag geschah. Gemeinsam mit der Freien Universität Berlin und dem Deutschen Historischen Museum hat die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« ein Zeitzeugenarchiv geschaffen und die Erstellung multimedialer Bildungsmaterialien gefördert.
Das Schicksal der Zwangsarbeiter spielt in der öffentlichen Wahrnehmung nur selten – wie hier in einer Ausstellung im Prenzlauer Berg Museum in Berlin vor sechs Jahren – eine Rolle. ND-
Das Schicksal der Zwangsarbeiter spielt in der öffentlichen Wahrnehmung nur selten – wie hier in einer Ausstellung im Prenzlauer Berg Museum in Berlin vor sechs Jahren – eine Rolle. ND-

»Da bekommt Geschichte plötzlich ein Gesicht und tritt aus der Anonymität heraus«, sagte Miriam Mogge, die gerade ihr Abitur an der Berliner Sophie-Scholl-Schule geschafft hat. Die geschichtsinteressierte Schülerin hat selbst Zeitzeugen der NS-Zeit in der Schule erlebt, und war ergriffen, wenn diese beim Erzählen anfingen zu weinen. Selbst Mitschüler, die sonst nur rumalbern, seien von solchen Erlebnissen beeindruckt gewesen. Miriam Mogge ist eine der Schülerinnen, die bei der Erstellung und in der Testphase der neuen Bildungsmaterialien unterstützend mitgewirkt haben. Dass die Sophie-Scholl-Schule stark in das Projekt involviert ist, liegt unter anderem daran, dass das heutige Schulgebäude von 1943 bis 1945 als Zwangsarbeiterlager diente. Arbeitsfähige Angehörige sowjetischer Familien wurden dort untergebracht und zur Arbeit am naheliegenden Hochbunker gezwungen.

Mit einer Portion Altersironie bezeichnete sich die Zeitzeugin Jutta Bergt-Pelz als Auslaufmodell. Es gebe nicht mehr viele Zeitzeugen, die von der Zwangsarbeit berichten könnten. Die mittlerweile 86-Jährige zählt zu den Jüngeren der etwa 13 Millionen Menschen, die in der Zeit zwischen 1939 und 1945 in Deutschland Zwangsarbeit verrichten mussten. Die gebürtige Berlinerin kam als verfolgte Jüdin in die Zwangsarbeit und überlebte verschiedene Konzentrationslager. Sie ist eine von fast 600 Zeitzeugen, die bereit waren über ihr Leben vor, während und nach dem Nationalsozialismus zu erzählen. Sie war in dieser Woche von Stuttgart nach Berlin gekommen, um an der Vorstellung der Lernsoftware zur Zwangsarbeit teilzunehmen. Direkt nach dem Krieg habe sie wie so viele nicht darüber sprechen können oder wollen, erzählte Bergt-Pelz. Dann habe lange Zeit niemand etwas hören wollen. »Die Nazi-Zeit wurde in Deutschland ja nie richtig aufgearbeitet«, sagte sie. Mit dieser Wahrnehmung ist Bergt-Pelz nicht allein. Viele ihrer Leidensgenossen haben erst viele Jahre später angefangen über die Zeit der Verfolgung und der Zwangsarbeit zu sprechen. Selbst in den Familien, die während der Nazi-Zeit auseinandergerissen wurden, blieb das Thema später oft unbesprochen. Erst die Entschädigungsdebatte brachte der NS-Zwangsarbeit den Status eines spezifischen NS-Verbrechens.

Die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« (EVZ) setzt sich seit zehn Jahren für Opfer des Nationalsozialismus ein. Günter Saathoff, Vorstand der Stiftung, betonte bei der Vorstellung der Lernmaterialien, dass es wichtig sei, »die Erinnerung an die Zwangsarbeit während der Zeit des Nationalsozialismus wach und lebendig« zu halten. Saathoff wies darauf hin, dass die Beschäftigung mit dem Thema Zwangsarbeit zwischen 1939 und 1945 ein jüngeres Thema in der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte sei. Als »Alltagsphänomen« sei Zwangsarbeit für viele Deutsche damals »so normal gewesen«, dass es nicht als Unrecht wahrgenommen wurde. Und da vielen später bewusst wurde, dass sie zugeschaut haben, ohne etwas zu tun, habe dann auch niemand darüber reden wollen. Erst seit Anfang der 90er Jahre sei es zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema gekommen.

Um das historische Wissen zur Zwangsarbeit wachzuhalten, haben Historiker und Didaktiker der FU Berlin zusammen mit der Stiftung EVZ ein Archiv von Zeitzeugeninterviews für die Nutzung im Unterricht aufgearbeitet und Lehrmaterialien entwickelt. In 27 Ländern haben 32 Teams Interviews durchgeführt und aufgezeichnet. Die Interviews sind bewusst als lebensgeschichtliche Gespräche geführt und archiviert worden, um die Zeit der Zwangsarbeit entsprechend einzubetten. Es wurden auch viele Fotos und Dokumente gesammelt, die in den neuen multimedialen Bildungsmaterialien elektronisch zur Verfügung stehen.

Bereits im Januar 2009 wurde ein Onlinearchiv präsentiert, in dem fast 600 Interviews mit Zeitzeugen der NS-Zwangsarbeit aufbereitet sind. Für die Lernsoftware und das Lehrerheft sind daraus fünf Personen exemplarisch herausgegriffen worden. »Wie lassen sich solche Interviews im Schulalltag einsetzen, haben wir uns gefragt«, sagte der Historiker und Didaktiker Cord Pagenstecher von der FU Berlin bei der Vorstellung der Software. Das Paket umfasst eine Video-DVD mit Interviews, eine CD mit der Lernsoftware und ein begleitendes Lehrerheft für den computerunabhängigen Einsatz. Wie auch das Onlinearchiv ist die Lernsoftware sehr umfangreich und hervorragend strukturiert. Neben den Interviews finden sich Angaben zu den Personen in Textform, Fotos und Dokumente. Suchfunktionen nach Namen, Ländern, Sprachen und Themen erleichtern das Arbeiten. Dazu gibt es Aufgaben, die unabhängig voneinander bearbeitet werden können. In einen Arbeitsbereich können Auszüge von Texten oder Fotos eingefügt werden und somit Notizen verfasst oder eigene Präsentationen erstellt werden.

Als Zielgruppe für die Lernsoftware werden 14- bis 18-Jährige gesehen. In der 9. Klasse, aber auch in Leistungskursen der Oberstufe. Obwohl die Fächer Geschichte und Deutsch naheliegend sind, denkt Pagenstecher auch an fächerübergreifende Einsatzmöglichkeiten. Da die Interviews in den Originalsprachen geführt und aufgenommen wurden, eignen sie sich auch sehr gut für den Einsatz im Fremdsprachenunterricht. Besonders hilfreich ist dabei, dass alle Interviews in der Originalsprache transkribiert wurden und auch in deutscher Übersetzung als Ausdruck in schriftlicher Form verwendet werdet können.

Die Filme der DVD sieht Pagenstecher im lehrerzentrierten Unterricht, während die Lernsoftware vor allem in der Projektarbeit im Team verwendet werden könne. Besonders berücksichtigt hat man laut Pagenstecher die Bedürfnisse von Lehrern, die sich in letzter Zeit verstärkt Unterstützung bei der Vorbereitung zu neuen Prüfungskomponenten wünschen. Das multimediale Angebot sei für Präsentationsprüfungen sehr gut geeignet. Miriam Mogge konnte die Lernsoftware schon auf die Schulkompatibilität testen. »Es waren so ein paar technische Kleinigkeiten, auf die wir hingewiesen haben«, sagt sie zu ihrer Mitwirkung. Mit einem Verweis auf gängige Internetplattformen erzählt sie, wie die Schüler auf Fragen der Bedienbarkeit Einfluss nehmen konnten.

Die multimedialen Bildungsmaterialien werden ab Herbst für die Schulen verfügbar sein und in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben. Über die Schulen hinaus trägt eine Kooperation mit dem Deutschen Historischen Museum in Berlin dazu bei, das die Materialien für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich sind. An einer multimedialen PC-Station können dort Ausschnitte von Interviews angeschaut werden. Die Stiftung EVZ hat außerdem unter dem Titel »Zeugen und Zeugnisse« eine Übersicht von Bildungsprojekten zur NS-Zwangsarbeit herausgegeben.

www.zwangsarbeit-archiv.de

www.stiftung-evz.de

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