Ein letzter Dienst

Kurt Gutmann, Zeuge im Demjanjuk-Prozess, über schmerzende Erinnerungen und Hoffnung auf Gerechtigkeit

Die Verhandlungen gegen John Demjanjuk sind nach wochenlanger Unterbrechung wegen eines Klinikaufenthaltes des Angeklagten wieder aufgenommen worden. Nebenkläger im Prozess gegen den ehemaligen Wachmann von Sobibór ist der Berliner Kurt Gutmann.
Kurt Gutmann in seiner Berliner Wohnung
Kurt Gutmann in seiner Berliner Wohnung

Was geht in einem vor, was fühlt, was denkt man, wenn man dem Mörder seiner Mutter und seines Bruders gegenübersitzt? Aug in Aug. Nur fünf bis sechs Meter trennten Kurt Gutmann von dem gebürtigen Ukrainer John Demjanjuk, der sich für die Beihilfe beim Massenmord an Juden verantworten muss. »Ich konnte ihm nicht in die Augen schauen«, sagt Kurt Gutmann. »Das war nicht möglich. Er hielt den Kopf stets gesenkt. Ich dachte immer nur: Er ist der Letzte, der meine Mutter und meinen Bruder Hans lebend gesehen hat.«

Der Aufstand von Sobibór

Lange Zeit glaubte Kurt Gutmann, die beiden wären in Auschwitz ermordet worden. Erst 1996 erfuhr er, dass seine Mutter und sein Bruder 1942 von Düsseldorf nach Izbica im deutsch besetzten Polen deportiert worden sind. Das typische Schtetl in der Nähe von Lublin, in dem vor dem Krieg 95 Prozent der Bevölkerung jüdisch waren, diente den Nazis als »Umschlagplatz« für die Transporte in die Vernichtungslager, vor allem nach Sobibór.

Es gibt keine Todeskarteien von dieser Stätte des Grauens. So weiß Kurt nicht den Tag, an dem die Seinen starben. Obwohl das lange Zeit vergessene, auch von Holocaustforschern kaum beachtete Lager sich in die Annalen jüdischen Widerstands eingeschrieben hat. Am 14. Oktober 1943 war unter Leitung sowjetischer Kriegsgefangener jüdischer Herkunft ein Aufstand ausgebrochen. Zwölf deutsche SS-Männer wurden getötet. Über 300 Häftlinge konnten fliehen, wurden jedoch von Wehrmacht-, SS- und Polizeieinheiten in den folgenden Wochen wieder eingefangen und auf der Stelle erschossen. Nur 50 Häftlingen gelang es, sich in den umliegenden Wäldern zu verstecken, sich polnischen Partisanen oder der Untergrundarmee anzuschließen. Doch der Schock saß tief, die Massenmörder brachten alle im Lager verbliebenen Häftlinge um, vernichteten alle Unterlagen, machten Sobibór dem Erdboden gleich und forsteten das Gelände auf. »Die Kiefern ragen heute in den Himmel«, erzählt Kurt Gutmann. »Durch den Wald ist eine Schneise geschlagen – da, wo der Weg von der Rampe zu den Gaskammern führte.« 150 Meter lang und drei Meter breit. Die »Himmelfahrtstraße«.

Kurt konnte mit einem der letzten Kindertransporte nach Großbritannien deutschen Antisemiten entfliehen. Zehntausend deutsch-jüdische Kinder hatten das Glück. Auch Alfred Fleischhacker, der eben verstorbene Freund, dem er am Montag die letzte Ehre erwies.

Kurt kam in ein jüdisches Waisenhaus in Schottland, in dem sein älterer Bruder Fritz bereits seit 1934 lebte. »Er war ein sehr guter Schüler. Und da er in Deutschland als Jude nicht mehr das Abitur machen und nicht studieren durfte, ist ihm diese Möglichkeit eröffnet worden.« Es waren ihrer drei: Hans, der Älteste, Fritz und Kurt. Nach dem frühen Tod des Vaters 1928 hatte die Mutter für ihre Jungs allein sorgen müssen. Zur Aufbesserung der kläglichen Witwenrente strickte sie aus Seidenfäden kunstvolle Decken mit Mustern. »Die waren damals sehr begehrt. Eine sehr aufwendige Arbeit, die viel Geschick erforderte. Ich habe leider keine solche Tischdecke. Ich hätte gern ein solche. Zur Erinnerung an meine Mutter«, seufzt Kurt. Gegenständliche Erinnerungen sind rar. Das Fotoalbum, das die Mutter ihm auf die Reise nach Schottland mitgegeben hatte, wurde ihm im Waisenhaus abgenommen. Um Wehmut und Sehnsucht nicht zu nähren. Fritz hatte zum Glück noch einige Fotos.

Zwölf Jahre zählte Kurt, als er Abschied nehmen musste. Am 29. Juni 1939. Die Trennung fiel dem Jüngsten schwer. »Ich war ein Muttersöhnchen.« Fritz konnte ihm die fehlende Zuneigung nicht ersetzen. Im Gegenteil, er war im Heim für Disziplin verantwortlich und zu Kurt besonders streng. Nestwärme erfuhr Kurt erst in Annan wieder, einem kleinen Fischerdorf an der schottischen Grenze, in das die Kinder mit Beginn des Zweiten Weltkrieges evakuiert worden sind. Er kam in die Familie eines Bäckers, der auch auf Fischfang ging. »James und seine Frau waren sehr anständige Menschen. Sie hätten mich gern adoptiert, obwohl sie selbst zwei Kinder hatten.« Die Leitung des jüdisch-orthodoxen Waisenheims erlaubte es nicht. »Weil sie keine Juden waren.« James Chamers ist in den 60er Jahren beim Fischfang auf hoher See verunglückt. Kurt Gutmann hat in den 90er Jahren dessen Kinder besucht. »Kurt comes home«, titelte damals eine schottische Zeitung.

Während Fritz Mathematik studierte und Lehrer wurde, entschied sich Kurt nach der Schule, in einem Rüstungsbetrieb in Glasgow zu arbeiten. »Um die Beendigung des Krieges zu beschleunigen. Damit ich recht bald zu meiner Mutter und meinem Bruder zurückkehren könnte.« Kurt fand Anschluss an eine FDJ-Gruppe und trat deren Chor bei, den Erwin Jacoby, der Sohn eines jüdischen Kantors in Berlin, leitete. Das musikalische Talent hat Kurt von der Mutter geerbt. Sie sang während ihrer Strickerei am liebsten »Sah ein Knab' ein Röslein steh'n ...«

Doch Kurt wollte nicht nur Granaten drehen und antifaschistische Lieder singen, sondern auch mit der Waffe in der Hand gegen die Faschisten kämpfen. Nachdem das britische Parlament 1943 entschied, dass jüdische deutsche Antifaschisten in die Royal Army eintreten dürften, meldete er sich. Er war gerade mal siebzehneinhalb. »Ich gehörte nun dem 5. Schottischen Hochlandbataillon an.« Ja, er bekam auch ein Röckchen, blau-grün kariert. »Das gehörte zur Paradeuniform.«

Als die militärische Ausbildung zu Ende ging, war der Krieg aus. Kurt wurde als Dolmetscher in Kriegsgefangenenlagern eingesetzt. Dann kehrte der gebürtige Krefelder in die Stadt zurück, in der er die letzten Jahre seiner Kindheit in Deutschland verbracht hatte: nach Mülheim an der Ruhr. Nach dem Tod des Großvaters war die Mutter mit ihren drei Söhnen zur Großmutter gezogen, die dort in einem kleinem Häuschen lebte. In der Schule, die Kurt in Mülheim besuchte, hatte er schlimme Schikane von Lehrern und Schülern erlitten. Die einen verprügelten den Judenjungen mit dem Rohrstock, die anderen mit den Fäusten. Nun war er in Mülheim als Besatzungssoldat, stand Wache – und glaubte eines Abends, seinen Ohren nicht zu trauen. »Da kamen drei Männer aus einem Lokal und grölten laut: ›Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt. Denn heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt ...‹ Das war 1947!«, empört sich Kurt. Was tat er? »Ich habe ›Halt! Stehen bleiben!‹ gerufen. Die marschierten jedoch brüllend weiter. Da habe ich in die Luft geballert. Erst da hielten sie inne.« Private Gutmann brachte die drei zur Wache. »Sie kamen vor ein Militärgericht, wurden aber nur zu vierzehn Tagen Bau verurteilt. Man hat sich nicht mehr groß für die alten Nazis interessiert.«

In eben jenem Jahr hatte Kurt ein nicht minder erschreckendes Erlebnis mit Ungeist aus der Vergangenheit. »Ich war mit zwei Mädels in einem Tanzlokal. Da muss mich einer von früher erkannt haben. In einer Tanzpause sprach er die beiden an: ›Was ihr da macht, ist potenzielle Rassenschande.‹« Kurts charmante Begleiterinnen waren in der FDJ und ließen sich nicht einschüchtern.

Im Jahr darauf wurde Kurt Gutmann demobilisiert. Er arbeitete weiter als Dolmetscher, zunächst für eine chinesische Nachrichtenagentur, dann für Intertext der DDR. Er studierte Außenhandel, durfte aber nicht ins NSW, ins »nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet«, weil er Westemigrant war – und weil sein Bruder in England geblieben ist. Kurt konnte das nicht verstehen, fragte den Kaderleiter: »Hätte denn auch dieser Bruder von mir sich von den Nazis umbringen lassen müssen, damit ihr mir vertraut?!« Den Ingrimm spülten spätere Begegnungen mit vielen interessanten Persönlichkeiten hinweg, so mit Claude Lightfood von der KP der USA. »Wenn er in der DDR war, bestand er darauf, dass ich sein Dolmetscher bin.« Der afro-amerikanische Politiker nannte ihn seinen »deutsch-jüdischen Blutsbruder«. Und natürlich hat Kurt Gutmann es sich dieses Wochenende nicht nehmen lassen, mit Angela Davis zu sprechen.

Die Straße der Erinnerung

Sobibór. »Es ist eine kleine Gedenkstätte, aber die berührendste«, befindet der 83-Jährige. Die »Straße der Erinnerung«, wie der einstmals beidseitig von Stacheldraht eingezäunte Sandweg heute heißt, über den 250 000 Menschen in den Gastod getrieben worden sind, ist von kleinen Fichten und Findlingen gesäumt. Die Steine tragen Tafeln mit den Namen der Ermordeten, einer davon die von Jeanette und Hans Gutmann. »Ich habe auch einen Stein für eine ermordete polnische Familie gestiftet, die keine überlebende Angehörigen hat«, sagt Kurt Gutmann.

Vier Mal ist er schon nach München zum Prozess gereist: zur Eröffnung, als Zeuge der Anklage und als Prozessbeobachter. Er glaubt nicht an ein Herzleiden bei Demjanjuk. Ein junger Mann hat ihm berichtet, dieser habe in der Klinik in Stadelheim einen sehr munteren Eindruck gemacht. »In seiner Krankenzelle hatte er ein großes Kreuz hängen. Er hofft offenbar auf christliche Gnade«, vermutet Kurt Gutmann. Das Urteil wird wohl in der Tat nicht sehr hoch ausfallen, die Haft in Israel in den 80er Jahren mit angerechnet. Demjanjuk war als »Iwan der Schreckliche« aus Treblinka angeklagt. Seine Identität hat man nicht zweifelsfrei nachweisen können. »Dabei hat sein Gesicht eine einzigartige Physionomie. Das Foto auf dem SS-Ausweis Nummer 1393 zeigt ihn«, ist sich Kurt sicher. Neu aufgefundene und vom US-Sachverständigen Larry Stewart für echt erklärte Dokumente bekräftigen dies.

Kurt Gutmann wird zur Urteilsverkündigung nach München fahren. »Das bin ich meiner Mutter und meinem Bruder schuldig.« Ein letzter Dienst. »Für Gerechtigkeit.«

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