Testfall Raketenabwehr
Nach dem Kalten Krieg haben die USA und Russland mehrmals ihre strategische Partnerschaft verkündet. Doch blieben die Erklärungen nur Worte. Es wäre sicher falsch, nur die USA verantwortlich zu machen, doch war der wichtigste Grund dafür, dass Washington die berechtigten Interessen Moskaus nicht anerkennen wollte – von der NATO-Erweiterung bis zum Ausstieg aus dem ABM-Vertrag. Heute glaubt Russland, ein Entgegenkommen in der Politik der USA erkennen zu können.
Die einst vorherrschende russlandfeindliche oder oberlehrerhafte Rhetorik ist passé. Der neue START-Vertrag zwingt Russland nicht zu einseitigen Zugeständnissen. Die USA-Regierung legte Raketenabwehrprojekte auf Eis und setzt verstärkt auf regionale Systeme, die zumindest bis 2018, 2020 keine Gefahr für die russischen Interkontinentalraketen darstellen würden. Die Entscheidung über den NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens wurde verschoben. Größere Hoffnungen werden auf den Ausbau der militärischen Zusammenarbeit mit Russland gesetzt. Washington reagierte gelassen auf den politischen Wandel in Kiew und die dortige Annäherung an Russland.
Auch in der Wirtschaft gibt es Fortschritte. Im US-Repräsentantenhaus wurde erstmals über die Aufhebung des Jackson-Vanik-Amendment verhandelt. Obama legte dem Kongress erneut das Atomabkommen mit Russland (auch als »Abkommen 123« bekannt) zur Ratifizierung vor. Die Sanktionen gegen den russischen Rüstungsexporteur Rosoboronexport und die Moskauer Hochschule für Flugzeugbau wurden ohne jegliche Vorbedingungen aufgehoben, die Verhandlungen über den Beitritt Russlands zur Welthandelorganisation wiederaufgenommen. Russland erlaubte seinerseits den USA den Transit von Frachtgütern und Personal nach Afghanistan. Es unterstützt gemäßigte wirtschaftliche Sanktionen gegen Iran. Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass Moskau und Washington bereits eine einheitliche Position in diesen Punkten hätten.
Die russisch-amerikanischen Beziehungen sind immer noch sehr fragil. Es ist möglich, dass die Ratifizierung des START-Vertrags scheitert. Das Thema Raketenabwehr bleibt weiter von großer Bedeutung. Der »Neustart« brachte hier noch keine Lösung. So entwickeln die USA die Rakete SM-3 Block IIBt, die Interkontinentalraketen abfangen soll. Man plant, zehn Exemplare werden 2018 in Polen zu stationieren. Das könnte dann erneut zu einer Krise führen. Wie also sollte Kooperation aussehen, die den Interessen beider Seiten entspricht?
Besondere Gefahr könnte zum Beispiel von Mittel- und Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von weniger als 5500 Kilometer ausgehen. Die der USA und Russlands wurden vertragsgemäß vernichtet. Doch über zehn Staaten besitzen eigene und wollen sich dem Vertrag nicht anschließen. Bleibt es so, wäre der Aufbau eines aneinander gekoppelten Raketenabwehrsystems gegen eine solche Bedrohung die vernünftigste Lösung für Russland und die USA, wobei beide Seiten nicht auf die nationale Kontrolle über die eigenen Elemente verzichten würden. Der größte Effekt könnte durch das Zusammenspiel zwischen den Radaranlagen zur Ortung der Raketenstarts und der Bestimmung ihrer Flugbahn in Echtzeit erreicht werden, was die jeweilige Integration von entsprechenden Informationen bedeutet.
Erforderlich wäre auch eine intensive Zusammenarbeit im militärtechnischen Bereich. Das bereits erwähnte Atomabkommen (»Abkommen 123«), das bereits Ende dieses Jahres in Kraft treten kann, betrifft sehr sensiblen Bereiche, die vor kurzem noch als supergeheim galten. Vor ein paar Jahren waren zudem unter der Schirmherrschaft des NATO-Russland-Rats einige Dokumente über die Zusammenarbeit beim Aufbau eines regionalen Raketenabwehrsystems vorbereitet worden. Dies könnte nun genutzt werden. Ebenfalls möglich ist die Zusammenarbeit mit Israel und anderen Ländern, von großer Bedeutung die Einbeziehung Chinas. Nur wenn sich die Raketenabwehr von der Konfliktquelle zum Kooperationsbereich wandelt, werden die Beziehungen zwischen Washington und Moskau tatsächlich langfristigen und stabilen Charakter haben.
Unser Autor ist Direktor des Moskauer USA-Kanada-Instituts.
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