Einwürfe, Fußnoten

Fußball-WM (15)

  • Lesedauer: 2 Min.

FRÜHER war alles zwar nicht besser, aber anders. Früher, also bei der Fußball-WM 1974, liefen wir über den Pausenhof unserer Schule mit weißen Deutschland-Trikots mit den Namen von Müller oder Beckenbauer auf der Rückseite. Leibchen mit Cruyff oder Neeskens auf dem Rückenteil wären einem Verrat an Beckenbauer und Co. gleichgekommen, der Träger des orangefarbenen Trikots zum Außenseiter gestempelt worden, Rückkehr ins Müller-Beckenbauer-Kollektiv ausgeschlossen.

Heute schläft mein Ältester mit Müller auf dem T-Shirt ein und verbringt mit Robben seinen Tag (manchmal auch umgekehrt). Zur Zeit plagt ihn nur eine Sorge: Dass es bei der WM in Südafrika ein Endspiel zwischen Deutschland und Holland geben könnte. Das wäre arg schlimm für ihn, weil entweder Robben oder Müller verlieren würde. Am liebsten wäre es ihm, sie könnten sich auf ein Unterschieden einigen. So ist das eben mit der Auflösung kollektiver Identitäten im Turbokapitalismus: Das Individuum wird aus der Knechtschaft des nationalen Kollektivs entlassen; die Masse Mensch ist im Fluss, selbst jene, die gegen den Strom schwimmen, fallen nicht weiter auf.

Das ist die eine Seite der Medaille, die andere ist: Jeder ist gegen jeden austauschbar, Konsument einer Massenindustrie, in der das Individuum sich das gleichförmige Brummen der Vuvuzelas, das ekstatische Klatschen auf den Fan-Meilen bereitwillig selbst aufzwingt. Wer sich dem verweigert, ist kein Außenseiter, nein, viel schlimmer, er ist ein Spaßverderber. Repressive Toleranz in den Farben Schwarz-Rot-Gold.

Wer dem entfliehen will, muss sich entweder ins Private zurückziehen oder zu den eingeschworenen Gemeinschaften flüchten, die neben ihrer Ideologie weiterhin nichts gelten lassen. Zu den braunen Genossen etwa, die den Torjubel verweigern, wenn Messut Özil trifft. Oder zu den Linksautonomen, die in den letzten Tagen in Berlin eine »antinationale Aktionswoche« zelebrierten (selbstverständlich mit veganer Volxküche während der Deutschlandspiele). So manche schwarz-rot-gold-beflaggte Dönerbude in Neukölln und Kreuzberg erhielt Besuch von den autonomen Blockwarten mit der Aufforderung, den »Lumpen« zu entfernen. Die Logik dieser Ideologie ist simpel: Wer für Özil, Schweinsteiger, Müller und Khedira jubelt, spielt den Nazis in die Hände.

Das hat noch keine Ideologie tolerieren können – dass sich ihre Objekte frech erdreisten, zu Subjekten zu werden. jam

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