»Stumme und passive Symbole«
Europäischer Menschenrechtsgerichtshof verhandelt über Kruzifixe in öffentlichen Schulen
Straßburg (AFP/dpa/epd/ND). Der Rechtsvertreter der Mutter, Nicolo Paoletti, machte geltend, Italien sei laut einer Entscheidung des Verfassungsgerichts ein laizistisches Land. Daher seien Kruzifixe seit 2001 aus den Gerichtssälen des Landes verbannt worden. Der italienische Staat müsse in Sachen Religion neutral bleiben, auch in den öffentlichen Schulen. Kinder, die dort mit einem Kruzifix konfrontiert seien, müssten aber daraus schließen, dass sich der Staat mit dem Christentum identifiziere. Die 11 und 13 Jahre alten Kinder der Klägerin, die zu Hause laizistisch erzogen würden, hätten sich wegen der Kruzifixe in der Schule ausgeschlossen gefühlt.
Der Vertreter der italienischen Regierung wies diese Vorwürfe entschieden zurück. Die Kreuze seien nur »stumme und passive Symbole«, die keinen Einfluss auf den Unterricht hätten, sagte der Regierungsbeamte Nicola Lettieri. Die Kruzifixe seien »volkstümliche Symbole«, die zur nationalen Identität Italiens gehörten. Die aus Finnland stammende Klägerin, die in Italien lebt, bezeichnete Lettieri als »atheistische Aktivistin«.
In dem Verfahren treten zehn andere Europaratsländer als Drittparteien auf – ein Rekord in der Geschichte des Straßburger Gerichts. Die Staaten mit überwiegend katholischer oder orthodoxer Bevölkerung – Armenien, Bulgarien, Griechenland, Malta, Monaco, San Marino, Litauen, Rumänien, Russland und Zypern – stehen auf der Seite Italiens. Als Drittparteien sind auch 33 vorwiegend konservative Europaabgeordnete vertreten, unter ihnen der CSU-Politiker Bernd Posselt. Außerdem nehmen eine Reihe von Organisationen, darunter das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken, an dem Verfahren teil.
Die Große Kammer des Straßburger Gerichts überprüft eine erstinstanzliche Entscheidung vom November, gegen die Italien Rechtsmittel eingelegt hatte. Die Präsenz von Kreuzen in öffentlichen Schulen verstoße gegen das Grundrecht der Eltern, ihre Kinder nach ihrer eigenen Überzeugung zu erziehen, befand damals eine kleine Kammer des Gerichts. Außerdem könnten die Kruzifixe als religiöse Symbole nicht-christliche Schüler stören.
Bei einer Umfrage in Italien sprachen sich 84 Prozent der Befragten für die Beibehaltung der Kreuze in Schulen aus. Die gleiche Meinung vertraten auch 68 Prozent derjenigen Italiener, die nie in die Kirche gehen.
Die Deutsche Bischofskonferenz fordert den Erhalt von Kreuzen in den Schulen. Für die Identität Europas insgesamt wie auch der europäischen Länder sei es von entscheidender Bedeutung, die eigenen Traditionen und Werte wahren und vermitteln zu können, hieß es in einer Erklärung des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, vom Mittwoch anlässlich der Verhandlung in Straßburg. »Der Staat muss sich, wenn er nicht seine Identität verlieren will, zu seinen Wurzeln, Werten und Traditionen bekennen können, freilich ohne jemandem eine Religion aufzuzwingen«, betonte Zollitsch.
Kommentar Seite 4
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.