»Keine Staatskrise«

Aus der Rede von Bundestagspräsident Norbert Lammert

  • Lesedauer: 2 Min.

»Meine Damen und Herren, seit der letzten Bundesversammlung ist gerade ein gutes Jahr vergangen; sie traf sich hier am 23. Mai 2009, auf den Tag genau 60 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes, der besten Verfassung, die wir Deutschen je hatten. Deshalb war die 13. Bundesversammlung in gewisser Weise auch eine Feierstunde der Demokratie und des Parlamentarismus. Gerade in den vergangenen Wochen und Monaten haben sich unsere Demokratie und das parlamentarische System auch bei unvorhersehbaren Herausforderungen als handlungsfähig erwiesen. Es ist eine wichtige Erfahrung, dass die Verfassungsorgane zu gemeinsamer Verantwortung bereit und in der Lage sind.

Auch der Rücktritt des Bundespräsidenten hat zwar manche Enttäuschung und einige Turbulenzen ausgelöst: alles andere als ein normaler Vorgang, aber keine Staatskrise.

Diese Bundesversammlung findet statt, weil der Bundespräsident sein Amt niedergelegt hat, mit sofortiger Wirkung – ein in der Geschichte der Bundesrepublik, ja sogar in der Demokratiegeschichte unseres Landes einmaliger Vorgang. Diese Entscheidung und ihre Gründe haben wir zu respektieren, auch wenn viele von uns sie noch immer nicht wirklich verstehen können. (...)

Der überraschende Amtsverzicht hat in der Öffentlichkeit manche Fragen aufgeworfen, die nach Antworten suchen, er hat zugleich eine Nachdenklichkeit erzeugt, die bei allen direkt und indirekt Beteiligten Anlass auch zur selbstkritischen Befassung mit ihrer eigenen Rolle und zum Umgang mit öffentlichen Ämtern gibt. Dies gilt für Amtsinhaber wie Bewerber, für politische Parteien, aber auch für die Medien. (...)

In einigen westlichen Demokratien ist die staatliche Spitze durch eine erbliche Monarchie besetzt – mit dem durchaus beachtlichen Argument mancher Staatsrechtler, es sei klug, auch und gerade in einer Demokratie das Amt des Staatsoberhauptes dem Ehrgeiz der Parteien und gesellschaftlichen Gruppen zu entziehen und nicht der sonst unverzichtbaren Mehrheitsregel zu unterwerfen.

Das Grundgesetz hat sich für ein Wahlamt entschieden: der Bundespräsident wird gewählt. Das Amt des Staatsoberhauptes unterliegt damit denselben Regeln demokratischer Legitimation wie jedes andere öffentliche Amt. (...)

Die Übernahme eines Amtes macht aus der Person keinen Würdenträger, aber mit der Annahme der Wahl eben mehr als eine Privatperson. Das hat Folgen für die Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben und Funktionen. Niemand muss öffentliche Ämter übernehmen; wer kandidiert und gewählt wird, übernimmt allerdings eine Verantwortung, die er mit all seiner Kraft, nach bestem Wissen und Gewissen wahrzunehmen hat.

Niemand von uns steht unter Denkmalschutz. Weder die Parlamente noch die Regierungen, nicht einmal das Staatsoberhaupt. Kritik muss sein. Aber den Anspruch auf ›Wahrhaftigkeit und Respekt‹ hat Bundespräsident Köhler zu Recht nicht nur für sich, sondern für die politische Kultur unseres Landes im Ganzen reklamiert.«

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