Der letzte Tropfen

Anfangs nur Gast, am Ende ZK-Mitglied

  • Alexander Busgalin
  • Lesedauer: 5 Min.
Der 28. Parteitag der KPdSU war voller unerwarteter Initiativen – und doch vorher entschieden. Demokratisch wie nie zuvor – und doch manipuliert. Herrlich in seiner Polemik – und tragisch in seiner Ausweglosigkeit. Mich selbst machte er vom Opponenten bürokratischer Entstellungen, vom »politikfernen« Hochschuldozenten zum Mitglied des ZK, der »Nomenklatura«, die man heute »politische Elite« nennen würde.

1985 – zu Beginn der Perestroika – war die KPdSU noch eine einheitliche, aber schon von gewaltigen Widersprüchen durchdrungene Organisation. Nach dem Dahinsiechen Leonid Breshnews, dem Ableben Juri Andropows und Konstantin Tschernenkos schien Michail Gorbatschow die Hoffnung auf einen Ausweg aus der Sackgasse zu sein. Aber er war es nicht.

An der Spitze der 19-Millionen-Partei zeigten sich bereits sehr unterschiedliche Tendenzen. Da waren die konservativ-traditionellen Kommunisten, die ihre aufrichtige Überzeugung von der Gerechtigkeit der »Sache des Sozialismus« und den Vorzügen des Sowjetsystems mit gemäßigtem russischen Chauvinismus und heimlicher Sehnsucht nach strenger Unterordnung bei gleichzeitigem persönlichen Aufstieg verbanden.

Auf der anderen Flanke kämpfte ein Kreis relativ junger Vertreter der unteren und mittleren Parteinomenklatur. Absolventen von Eliteinstituten, mit dem Westen vertraut, verwöhnt durch die Privilegien ihrer Väter und Großväter, bejubelten diese künftigen »Yuppies« der KPdSU Gorbatschow am lautesten – im Vorgeschmack auf ein ganz anderes Ergebnis als das von Gorbatschow erstrebte.

Vorherbestimmt wurde das Resultat der Führungstätigkeit Gorbatschows indes durch die amorphe Masse der mittleren Nomenklatur, die keine klare ideologische Orientierung hatte. Ihr Credo war der persönliche Wohlstand, den zu erlangen es in der UdSSR eben einer Parteikarriere bedurfte.

Auch unter den »einfachen« Parteimitgliedern gab es treue Kommunisten, die den Fortschritt des Landes als Lebensaufgabe ansahen. Andere waren »wie alle« in der Partei und verrichteten ehrlich ihre Arbeit. Und es gab Karrieristen, die nur des Aufstiegs wegen eingetreten waren. 1990 hatte sich die Mehrheit, zumindest aber eine starke Minderheit der Mitglieder, bereits der einen oder anderen Tendenz angeschlossen, aus denen die »Plattformen« erwuchsen.

Die erste und größte war die »Demokratische Plattform«, deren Aktivisten zwar noch über eine Reform des Sozialismus sprachen, die parlamentarische kapitalistische Ordnung aber bereits für das Modell der Zukunft hielten. Während des Parteitags spaltete sich diese Plattform: Leute wie Boris Jelzin traten demonstrativ aus der Partei aus, schwenkten scharf nach rechts und bildeten nach dem Zerfall der UdSSR neoliberale politische Strukturen. Andere blieben in der KPdSU – gleichsam als Urbilder der unbestimmbaren postsowjetischen Sozialdemokraten, von denen einige heute in der Partei »Gerechtes Russland« sind.

Gorbatschow und seine Vertrauten bezogen Positionen, die weitgehend mit denen des linken Flügels der »Demokratischen Plattform« übereinstimmten – nur dass ihr wichtigstes Interesse im Machterhalt bestand. Wichtig für Gorbatschow war sein »Rating« – in der UdSSR, aber auch im Westen.

Den Gegenpol bildeten konservativ-kommunistische Delegierte und Gäste, die zuvor den »Leningrader Initiativparteitag« veranstaltet hatten. Ihre Kritik an Gorbatschows Kurs, der zum Kollaps der UdSSR und des Sozialismus führen würde, war durchaus begründet. Aber damit standen sie nicht allein.

Eine dritte Tendenz, die »Marxistische Plattform«, war erst drei Monate zuvor durch die Abspaltung linker kommunistischer Demokraten von der »Demokratischen Plattform« und die Vereinigung mit Kommunisten informeller linker Strukturen entstanden. Zu ihren Initiatoren gehörte auch ich. Wir verbanden die Ideen von Kommunismus und Demokratie auf »nicht-gorbatschowsche« Art. Wir wollten keine Konvergenz von »realem Sozialismus« und »realem Kapitalismus«, sondern den Bruch mit der bürokratischen Verfasstheit der UdSSR und deren Ablösung durch Selbstverwaltung und Selbstorganisation.

Die Medien konzentrierten sich während des Parteitags auf den Kampf der »Großen«: Gorbatschow, Jakowlew, Ligatschow, Jelzin ... Das waren indes Äußerlichkeiten. Noch weniger bedeutsam waren die Abschlussdokumente – voller unklarer Kompromisse. Genauso unklar wie die Zusammensetzung des neuen Zentralkomitees, in das auch je drei Vertreter jeder Plattform gewählt wurden. Für mich, eigentlich nur Gast des Parteitags, war die Wahl ins ZK eine riesige Überraschung, eine zwiespältige überdies: Sie nährte die Hoffnung, diese Stellung irgendwie nutzen zu können (was sich als unrealistisch erwies), aber auch die Befürchtung, von der Maschine verschlungen zu werden (die zerfiel jedoch bereits). Bedeutsam war der Parteitag wahrscheinlich nur, weil er die Widersprüche der KPdSU klar offenbarte.

Widerspruch 1: Just da sich in der KPdSU Demokratie und Freiheit des Wortes durchzusetzen begannen, war die Partei geschwächt wie nie zuvor. Ihr Tod ließ nicht mehr lange auf sich warten. Viele Kritiker der Perestroika folgern daraus, dass die Demokratisierung der Tod der KPdSU und des ganzen Landes war. Tatsächlich aber war die bürokratische Entartung der KPdSU 1990 bereits so weit fortgeschritten, dass partielle Reformen von oben nicht mehr halfen. Notwendig wären radikale Veränderungen der Partei und des ganzen Gesellschaftssystems gewesen.

Widerspruch 2: Formal streng zentralisiert und »geschlossen«, erwies sich die KPdSU 1990 real als Konglomerat entgegengesetzter Interessengruppen und Ideologien.

Widerspruch 3: Die Geschichte der KPdSU nach Lenin war durch die Unterordnung der »einfachen« Kommunisten unter die Führung geprägt. Diese nahm unter Stalin, Nikita Chruschtschow, Breshnew unterschiedliche Formen an, blieb im Wesen jedoch unverändert. Die Perestroika brachte diese Pyramide ins Wanken. Die »unteren Schichten« waren zu selbstständigen Aktionen nicht fähig und bereit, es fehlte ihnen am Bewusstsein ihrer grundlegenden Interessen. Vor allem diesen Widerspruch zwischen dem Wunsch eines bedeutenden Teils der Parteimitglieder, das Leben zum Besseren (Sozialistischen!) zu verändern, und der fehlenden Bereitschaft zu gemeinsamen Aktionen brachte der Parteitag ans Tageslicht. Doch lösen konnte er ihn nicht. Als es zum organisatorisch-politischen Kampf kam, ordneten sich alle – wie früher – der Führung unter, die das Schicksal des Landes in den Wandelgängen entschied.

Der Autor ist Professor am Lehrstuhl für politische Ökonomie der Moskauer Universität und Chefredakteur des Journals »Alternatiwy« (www.alternativy.ru).

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