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Zweigestrichenes e sagt ade
Neunter Klangwechsel beim spektakulären Cage-Projekt in Halberstadt
Ein eigenwilliger Ton schwebt 24 Stunden täglich hinter den Mauern der altehrwürdigen Burchardikirche von Halberstadt. Tonkundige wissen, da erklingen d’ und e’’, as’, a’, c’’, fis’’ und gis’’. Ab heute wird es ein Ton weniger sein, nach nur 17 Monaten verabschiedet sich das zweigestrichene e aus dem Klangbild. Laura Kuhn, der Direktorin des John Cage Trust (New York), wird es obliegen, die entsprechende Pfeife zu entfernen und damit den einzigen Tonwechsel 2010 zu vollziehen.
Das im Jahr 1985 für Klavier entstandene und wenig später für Orgel instrumentierte Werk John Cages, das hier zu hören ist, trägt den Titel »As slow as possible« (ASLSP) – So langsam wie möglich. Das nimmt man in Halberstadt wörtlich. Das Vergangenheits-Zukunft-Projekt ist auf 639 Jahre gedehnt. Von der Jahrtausendwende diese Jahre zurückgerechnet, also im Jahr 1361, war im Halberstädter Dom eine der ältesten ortsfesten Orgeln installiert worden.
Cage wurde 1912 in Los Angeles geboren und starb 1992 in New York. Begonnen hatte die Werkaufführung vom 5. September 2001 bis 5. Februar 2003 mit monatelanger Stille – nur der »Sound der Umweltgeräusche« war zu hören. Nach und nach wurden Töne in die Klangskulptur des John-Cage-Projektes eingefügt. Nun erlebt das Publikum bereits den neunten Klangwechsel – und die einst mit nur einer Pfeife versehene Orgel schmücken längst mehrere. Wer mag, kann in der Burchardikirche für 1000 Euro ein Aufführungsjahr seiner Wahl kaufen und damit Teil der Vision werden. Für das Geld wird dann eine Metalltafel mit dem Wunschtext des Paten im Kircheninneren angebracht. Viele Jahres-Paten kommen zu jedem Klangwechsel, darunter das Ehepaar, welches schon das Jahr seines 700. Hochzeitstages erworben hat, oder die Großeltern, die ihrem Enkel ein Jahr kauften. Insgesamt können noch 492 der 639 Klangjahre erworben werden. Die nächsten, unverkauften Jahre sind 2091 und 2092. Bis dahin wird auch ein Rechenfehler ausgeglichen sein. Momentan nämlich erlebt das Publikum, das gelegentlich sogar per Touristenbus vorbeikommt, eine um elf Monate zu schnelle Aufführung. Die Lösung: Auf Cages 108. Geburtstag am 5. September 2020 hin soll zwischen Impuls 14 und 15 etwas weniger rasch gespielt werden.
Das Projekt währt derzeit nicht einmal mehr 20 Milliarden Sekunden, wie die Stiftung akribisch zählt. Angesichts der schnelllebigen Zeit sei dieses Vorhaben eine Form der versuchten Entschleunigung. Es handele sich um das Pflanzen eines »musikalischen Apfelbäumchens« als Symbol des Vertrauens in die Zukunft, so der Fördervereinsvorsitzende Christof Hallegger beim vorigen Klangwechsel.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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