Ein Labor für alle Neoliberalen
In der Slowakei wird heute die neue konservative Regierung der Ministerpräsidentin Iveta Radicova vereidigt
Wien-Simmering, wochentags um 8 Uhr 31. Der Lokalzug setzt sich in Bewegung. Vom südöstlichsten Bahnhof der österreichischen Hauptstadt aus fährt er im Stundentakt nach Bratislava, wo er 55 Minuten später ankommen wird. Zwei Wiener Schulklassen auf dem Weg Richtung multikulturellen Austausch übertönen die Fahrgeräusche. Die meisten übrigen Reisenden sind Slowakinnen in ihrem besten Alter. Schon das Display der Automatenkassa am Bahnsteig war in slowakischer Sprache eingestellt, um den Verkauf der Fahrkarten schneller abwickeln zu können. Nun sitzen die Frauen neben ihren Rollkoffern und Taschen und beginnen, miteinander zu tratschen. Viele kennen einander von diesem Arbeitsweg zwischen ihrem österreichischen Pflegling und der Familie daheim. Die besser gestellte Wiener Mittelklasse nutzt die Lohndifferenz zum östlichen Nachbarland, um ihre kranke Großmutter oder ihren altersschwachen Opa von kräftigen Slowakinnen betreuen zu lassen. Für vergleichsweise wenig Geld wird deren Mütterlichkeit umgeleitet: von der slowakischen Familie zum österreichischen Pflegefall.
Brigitas langer Weg nach Hause
Brigita sitzt etwas abseits mit auffallend großem, schwerem Gepäck. Sie wirkt müde und abgespannt. Die ganze Nacht über ist sie den Alpenhauptkamm entlang aus dem vorarlbergischen Bludenz gekommen. Im Drei-Wochen-Rhythmus geht es zwischen Pflege in der Fremde und Familie zu Hause hin und her. In Bratislava muss Brigita dann den Zug nach Poprad am Fuße des Tatragebirges nehmen, um die Ihren in die Arme schließen zu können. Insgesamt 16 Stunden Bahnfahrt werden dann am frühen Nachmittag zu Ende gehen.
Warum es sie ausgerechnet nach Bludenz verschlagen hat, eine der am weitesten von der Slowakei entfernten österreichischen Städte, will ich von ihr wissen. Sie arbeite für eine süddeutsche Jobvermittlungsagentur, gibt sie in schlechtem Deutsch zu verstehen, und für die sei Bludenz eben gar nicht so weit weg.
In Poprad erwartet sie ein Berg ungewaschener Wäsche. Ihre eigene Mutter ist krank und bedarf ebenfalls der Pflege, was sich mit dem Dienst in Vorarlberg nur schwer in Einklang bringen lässt. Die beiden Töchter sind selbstständig genug, um jeweils drei Wochen ohne Betreuung auszukommen.
Lieferant für billige Arbeitskräfte
Brigita mag 40 Jahre alt sein, höchstens 45. Ihre Augen wirken jung, die dunklen Ringe darunter könnten sich in den kommenden drei Wochen aufgehellt haben. Die fehlenden Zähne erzählen von der postkommunistischen, »liberalen« Ära seit der tschechoslowakischen Wende. Erst als sie in Bratislava aus dem Zug aussteigt, bemerke ich, dass Brigita hinkt. Den schweren Koffer stemmt sie dennoch mit Schwung aus dem Waggon hinaus auf den Perron.
Mit der Geschichte von Brigita ist viel über die heutige Slowakei erzählt. Wirtschaftliches Gefälle und regionale Ungleichheit haben aus dem kleinen Land in den vergangenen 20 Jahren einen Lieferanten billiger Arbeitskräfte gemacht, die entweder auf Pflege im Westen oder im Automobil-Cluster entlang der Strecke Zilina-Trnava-Bratislava beschäftigt sind. Oder, wie ein großflächiges Inserat in der Wochenzeitung »Slovak Spectator« wirbt, als »Hundeführer für Minenräumung in Afghanistan ihre Herausforderung« suchen, wobei »militärische oder polizeiliche Erfahrung, Englischkenntnisse und Sicherheits-Check durch die NATO« die Voraussetzungen bilden. Eine Einschätzung der politischen Situation nach den Parlamentswahlen vom 12. Juni soll die gesellschaftlichen Verhältnisse dennoch erklären helfen. Für fast die Hälfte der Slowaken gilt allerdings der Spruch, den mir die Pflegerin Brigita noch mit auf den Weg gegeben hat: Demnach interessiert sie sich für drei Dinge überhaupt nicht – für Politik, Kirche und Fußball.
Der Erfolg von Robert Ficos sozialdemokratisch-patriotischer »Smer« (Richtung), der mit einem Zuwachs von zwölf Abgeordneten und 35 Prozent Zustimmung den Urnengang gewonnen hatte, entpuppte sich bereits am Wahlabend als Pyrrhus-Sieg. Die bisherigen Koalitionspartner SNS (Slowakische Nationalpartei) und HZDS (Vladimir Meciars »Volkspartei« fiel überhaupt aus dem Parlament) verloren dramatisch, eine konservativ-liberale Viererallianz unter Ministerpräsidentin Iveta Radicova übernimmt nun die Regierung.
Die Gründe für das Roll-Back sind mannigfaltig. »Protestverhalten, Korruption und eine unheimliche mediale Kampagne gegen Fico« nennt der junge Politologe Ivan Lesay als Gründe für die Abwahl der anti-liberalen Koalition. Spots in privaten TV-Stationen haben beispielsweise direkt dazu aufgerufen, seine Stimme nur ja nicht Robert Fico zu geben, da ansonsten die junge Generation zur Auswanderung gezwungen wäre. Und die Wochenzeitung »Tyzden« entwickelte ein eigenes Logo, auf dem das Konterfei von Fico durchgestrichen war. Die Warnung lautete: Wählt keinen Bolschewiken.
Der strategische Fehler von »Smer« bestand wohl auch darin, in allen Politikfeldern dominieren zu wollen. Statt sich auf die soziale Kompetenz zu konzentrieren, ging Fico in den Wochen vor der Wahl auch mit patriotischen und nationalen Argumenten auf Stimmenfang. Gewonnen hat er genau jene Wähler, die am Ende der HZDS und der SNS gefehlt haben. Lubos Blaha, Berater der Smer-Parlamentsfraktion und Politologe, meint, diese Strategie sei bewusst gewählt worden. Mit einem Auge habe Fico auf einen Koalitionswechsel geschielt, mit dem er die peinlichen Sprüche von SNS-Chef Jan Slota los geworden wäre. Nur fand sich aus den Reihen der früheren Opposition niemand, der mit »Smer« koalieren wollte.
Wer steckt nun hinter der neuen Viererallianz, die nach den Wahlen die politischen Zügel in die Hand genommen hat? Ideologisch bestimmen Personen rund um den slowakischen Friedrich-Hayek- Think-Tank die – neoliberale – Richtung. Vor allem die mit zwölf Prozent Stimmanteil als drittstärkste Kraft neu ins Parlament gewählte Partei »Freiheit und Solidarität« (SaS) ist mit Hayek-Mannen durchsetzt. Aber auch die moderate Ungarn-Partei »Most-Hid« (acht Prozent) kennt Hayek-Denker in ihren Reihen. Dazu kommt der Parteiführer der SaS, Richard Sulik, ebenfalls ein geistiger Sprössling des Wirtschaftsliberalismus. In der Slowakei und darüber hinaus hat er sich als Entwickler der »Flat tax« einen Namen gemacht.
Diese nicht-progressive Besteuerungsform von Einkommen spricht jedem sozialen Ausgleich Hohn. Die »Smer« ist mit der Einlösung ihres Wahlversprechens aus dem Jahr 2006, die Flat tax abzuschaffen, auch nach vier Regierungsjahren gescheitert. Und die neue Koalition denkt nicht im Traum daran, dieses Kernstück ungerechter Verteilungspolitik aufzugeben. Auch die SDKU (Christlich-Demokratische Union) mit 15,5 und die KDH (Christlich-Demokratische Bewegung) mit 8,5 Prozent setzen auf die ausschließliche Kraft des Marktes.
Die von Fico gezügelten neoliberalen Ausschweifungen tauchen im eben veröffentlichten Regierungsprogramm wieder auf. So sollen die 2006 gestoppten Privatisierungen von Flughafen Bratislava und Cargo-Bahnfracht wieder aufgenommen werden. Konkrete Käufer wie der Flughafen Wien und die Österreichische Bundesbahn stehen in den Startlöchern. Des weiteren werden die vom Staat durchgesetzte Kapitalgarantie für Rentner bei privaten Pensionsversicherern abgeschafft, die Gesundheitsvorsorge privatisiert, Hemmnisse für Gewinnausschüttungen beseitigt und Spitäler in Aktiengesellschaften umgewandelt. Besonders drastisch dürfte sich die Rolle rückwärts auf das Arbeitsrecht auswirken. Fico hatte 2006 die fortgesetzte Prekarisierung ganzer Branchen gestoppt. »Davor waren z.B. beim Supermarkt-Riesen Tesco Verkäufer als eigene Einmann-Betriebe tätig, die auf Honorarbasis gearbeitet haben«, erklärt Lubos Blaha die von »Smer« in die Schranken gewiesenen Auswüchse des neoliberalen Zeitalters. Die neue Koalition plant die Wiedereinführung.
Die Idee vom »Odvodovy Bonus«
Am weitesten denkt da SaS-Chef Richard Sulik. Er hat das System eines »Sozialabgabenbonus« entwickelt, auf slowakisch »Odvodovy Bonus«. Analog zur Idee der Flat tax würde dieses Modell sämtliche sozialen Transferleistungen abflachen, erklärt der Politikwissenschaftler Ivan Lesay. Jeder Angestellte erhielte demnach seinen »gesamten« Lohn inklusive der Bruttoanteile des Unternehmers. Davon müsste er je neun Prozent in zwei Fonds einzahlen, die für soziale Grundversorgungen aufzukommen hätten. Jede weitere Sozialleistung entfiele. Noch ist dieses gesellschaftliche Experiment nirgends ausprobiert worden.
Die christlich orientierten Koalitionspartner der SaS üben sich bislang auch in Zurückhaltung. Die zweitstärkste Kraft in der neuen Allianz will jedoch alles daran setzen, nach der Abflachung der Steuersätze nun eine solche bei den sozialen Transferleistungen zu bewerkstelligen. Frauen wie Brigita, die in der Fremde alte Menschen pflegen, reagieren auf derlei experimentelles Treiben mit zur Schau getragener Interesselosigkeit. Ihr Leben als Teilzeitemigrantinnen lässt ihnen auch keinen Platz für politisches Engagement.
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