Pyrrhussieg der Opposition
Verfassungsgericht der Türkei stellte Weichen für Referendum
Das türkische Verfassungsgericht hat einen Teil der vom Parlament verabschiedeten Verfassungsänderungen als verfassungswidrig verworfen. Gerichtspräsident Hasim Kilic erklärte, die Reform, die rund 20 Verfassungsänderungen vorsieht, sei an zwei Punkten nicht akzeptiert worden. Dabei geht es um die zukünftige personelle Zusammensetzung des Hohen Rates für Richter und Staatsanwälte und die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts selbst.
Die linksliberale Tageszeitung »Radikal« spricht von einem »chirurgischen Eingriff«, einem Mittelweg, den weder die oppositionelle CHP, die die völlige Ablehnung des Reformpaketes gefordert hatte, noch die regierende AKP völlig befriedigt. Im Detail geht es darum, dass Personen, die der Staatspräsident als Mitglieder des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte ernennt, nicht, wie in der Vorlage geplant, auch aus dem Wirtschafts- und Politikbereich kommen dürfen. Sie müssen Juristen sein. Dadurch verhinderte das Verfassungsgericht auch, dass zukünftig Nichtjuristen über die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts selbst entschieden hätten. Damit hat sich die AKP zwar teilweise durchgesetzt, letztlich geht es aber darum, dass die obersten Gerichte wenigstens teilweise noch die Kontrolle darüber behalten, wer in ihre Reihen berufen werden darf.
Abgesehen von diesen Einschränkungen hat das Verfassungsgericht alle vom Parlament verabschiedeten Verfassungsänderungen passieren lassen. Diese Änderungen müssen nun noch in einer Volksabstimmung angenommen werden, um Gültigkeit zu erlangen. Erhalten sie die Mehrheit, werden zukünftig Militärs vor zivilen Gerichten angeklagt, und die Immunität für die Putschisten, die am 12. September 1980 die Macht übernommen hatten, wird endlich aufgehoben. Bereits vorher war allerdings im Parlament ein Änderungsvorschlag gescheitert, der das Verbot von Parteien erschweren sollte. Abweichler innerhalb der AKP hatten dagegen gestimmt, weil sie ein mögliches Verbot kurdischer Parteien nicht erschweren wollten.
Mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts ist nun klar, dass es nicht, wie verschiedentlich spekuliert worden war, zu vorgezogenen Wahlen kommen wird. Die AKP kritisiert die Entscheidung zwar als unzulässige Einmischung der Richter in den parlamentarischen Prozess, will aber an der Volksabstimmung festhalten, die symbolisch am 12. September, dem Tag des Putsches vor 30 Jahren, stattfinden soll. Damit wird das Referendum zu einem Stimmungstest für die Parteien, da die oppositionelle CHP auch unter ihrem neuen Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu für eine Ablehnung der Reform mobilisieren will.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.