Genetische Selektion als Ware
Der Bundesgerichtshof statuiert zweierlei Recht für künftige Eltern
Wer bereit ist, die Sexualität komplett von der Fortpflanzung zu trennen, hat das höchstrichterlich zugesprochene Recht, eine genetische Selektion des künstlich erzeugten Embryos vornehmen zu lassen. Eine Frau, die auf natürlichem Weg schwanger wird, bleibt dem restriktiven Gebärdogma des Paragrafen 218 unterworfen.
Das umstrittene Embryonen-Urteil des Bundesgerichtshofs sagt nichts über den menschenrechtlichen Status des Embryos in Vitro aus. Auch werden die individuellen Motive, warum eine fortpflanzungsmedizinische Laborleistung in Auftrag gegeben wird, nicht hinterfragt. So darf sich, wer will und wer es bezahlen kann, künstlich befruchten lassen und vorher in der Petrischale Embryonen testen lassen. Ein Dienstleitungsverhältnis zwischen Auftraggeber und Arzt garantiert Qualitätssicherung und löst Haftungsansprüche aus. Genetische Selektion kann also erkauft werden. Die moderne Reproduktionsmedizin macht es möglich. Und das, obgleich das Embryonenschutzgesetz, das die Praxis der außerkörperlichen Befruchtungstechnik begleitet, bislang auch von den GesetzgeberInnen als ausreichender Schutz vor Selektion angesehen wurde.
Für alle Menschen, die ihre Kinder durch zwischengeschlechtlichen Sexualakt zeugen, bleibt das Selektionstabu weitgehend aufrecht erhalten. Natürlich zustande gekommene Schwangerschaften stehen unter besonderen strafrechtlichen Androhungen, sollte eine Frau abtreiben wollen. Die embryopathisch begründete, also auf den Embryo bezogene Abtreibung wurde bei der letzten Änderung des Paragrafen 218 bewusst gestrichen. Man wollte in Deutschland keinesfalls behindertenfeindlich sein oder mit genetischer Veranlagung begründete Abtreibungen dulden. Eine solche Abtreibung bleibt strafbar. Nur wenn die schwangere Frau selbst wegen des Wissens um das Kind in ihr so sehr leidet, dass sie krank wird, darf ein Arzt den Abbruch vornehmen.
Aus reproduktionsmedizinischer Sicht und der künftiger Eltern würde es sich demnach geradezu empfehlen, der technischen Machbarkeit erbgesunden Nachwuchses das Wort zu reden. Schließlich wäre dann die Pränataldiagnostik während der Schwangerschaft in vielen Fällen verzichtbar und eine Abtreibung bliebe der Frau erspart. So jedenfalls argumentieren nicht wenige Frauenrechtlerinnen. Auch die Zwangsberatung der Frau, wie in Paragraf 218 vorgeschrieben, entfällt bei künstlicher Befruchtung. In mancherlei Hinsicht ist diese Fortpflanzungsmethode vorteilhafter, wenn man voraussetzt, dass der prinzipielle Kinderwunsch zum Interesse auf ein erbgesundes Wunschkind reduziert wird
Da der Bundesgerichtshof prinzipiell keine Begrenzung für den so fortpflanzungswilligen Personenkreis vorgenommen hat, kann, wer das Geld dafür hat, sich schon vor der Schwangerschaft das normgerechte Kind aussuchen. Wer Elternglück vom genetischen Zustand des zu erwartenden Kindes rechtlich abgesichert fordern darf, hat einen erklecklichen Vorteil im Lifestyle-Konzept gegenüber jenen, die entweder die finanziellen Möglichkeiten dazu nicht haben oder körperliche Liebe und Elternliebe nicht voneinander trennen wollen.
Ist das nun Emanzipation von der Unbill menschlicher naturhafter Existenz und ein weiterer Schritt zu Befreiung der Frau? Oder ist es (auch) ein weiterer Schritt in eine behindertenfeindliche Gesellschaft, die die Selektion in die Selbstbestimmung der künftigen Eltern legt? Diese Debatte sollte geführt werden. Sie sollte alle ethischen, rechtlichen, moralischen, kulturellen und feministischen Aspekte einschließen. Nicht zuletzt die Frage, ob feministische Emanzipation nicht auch die Humanisierung der Gesellschaft und Behindertengerechtigkeit beinhalten muss. Oder ob insbesondere Frauenpolitikerinnen es zulassen, individuelle technische Lösungen für kulturelle gesellschaftliche Fragen auf die Schultern der einzelnen Frau zu legen.
Es ist möglich, die Präimplantationsdiagnostik gesetzlich zu verbieten. Der Gesetzgeber müsste dann auch keine Kriterien für erlaubte Selektion festlegen. Was bedeutet, dass er nicht über zumutbare und nicht zumutbare Formen der genetischen Normabweichung bestimmen müsste. Die zweite Möglichkeit ist, Paragraf 218 aufzugeben und die Invitrofertilisation auf den eigentlichen Bestimmungszweck begrenzen, der in der Ermöglichung einer Schwangerschaft und nur darin läge. Drittens müsste der grundrechtliche Status des Embryos in vivo oder in vitro als der eines Menschen in Entwicklung – und daher vor jeder Nützlichkeit und Fremdbestimmung geschützt – festgelegt werden. Allein die Frau träfe dann in jedem Stadium der Schwangerschaft die Entscheidung, ob sie das Kind gebären wird. Damit wäre der Frau endlich das Menschenrecht auf Selbstbestimmung über ihre Reproduktionsfähigkeit zuerkannt. Diese Gesetze stehen jetzt an.
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