50 auf einen Streich
Massenhochzeiten finden unter den Armen Indiens immer mehr Anklang
Quer durch alle religiösen und ethnischen Gruppen Indiens finden in den ärmsten Schichten der Bevölkerung von staatlicher Seite, Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen finanziell und materiell unterstützte Massenhochzeiten immer mehr Akzeptanz.
Kein Protz und Prunk, kein Blasorchester, keine Bollywood-Filmhits aus plärrenden Lautsprechern, kein Feuerwerk, eine drastisch begrenzte Gästezahl, ein bescheidenes »Festmahl« und eine zügige auf die wesentlichen Rituale beschränkte Vermählungszeremonie. So laufen heute die meisten Massenhochzeiten in Indien ab. Auf einen Streich schließen dabei unter minimalem finanziellen Aufwand zwischen 50 und 500 Paare je Veranstaltung den Bund fürs Leben. Eher selten kennen sich Braut und Bräutigam, gar manches Paar sieht sich am »Traualtar«, der auch ein heiliges Feuer sein kann, zum ersten Mal. In rund 90 Minuten ist die offizielle Heiratsprozedur abgewickelt. Mitunter ergreift ein Politiker das Wort, um sich als Heilsbringer und Wohltäter aufzuspielen und mehr oder weniger geschickt für seine Partei zu werben.
Als Vorreiter der Massenhochzeiten gilt der Unionsstaat Maharashtra. Erst im Juni gab es im Distrikt Thane eine der spektakulärsten Masseneheschließungen. Dazu hatten sich 500 Frauen und Männer entschlossen, die indigenen Adivasi-Gemeinschaften angehören. Ihr sozialer Status, ihre extrem ärmlichen Lebensverhältnisse machten es unmöglich, eine traditionelle indische Hochzeit auszurichten. Gewöhnlich beginnen deren Kosten, je nach Vermögensstand und Kreditwürdigkeit, bei umgerechnet etwa 10 000 Euro.
Soviel Geld verdienen Adivasi in ihrem ganzen Leben nicht. Die Paare im Thane-Distrikt sind Analphabeten, meistens Tagelöhner, Hilfsarbeiter, ohne feste Beschäftigung. Sie lebten bislang unterhalb der Armutsgrenze, die bei einem Tagesverdienst von knapp anderthalb Euro liegt. Die Massenhochzeit bietet ihnen eine einmalige Chance auf »Wohlstand«. Denn der Staat und etliche Wohltätigkeitsvereine tragen nicht nur alle Kosten der Veranstaltung, sondern spendieren jedem jungen Paar Haushaltsutensilien, vom Kochtopf bis zur Schlafmatte. Manchmal kommt dieser Segen auch in Form einer Bargeldsumme, die den Einstieg ins Eheleben erleichtern soll.
Auch in der Vidarbha-Region zählen Massenhochzeiten inzwischen nicht mehr zu den außergewöhnlichen Ereignissen. Das Gebiet ist seit Jahren berühmt-berüchtigt wegen der außerordentlich hohen Selbstmordrate. Tausende hoch verschuldete und verzweifelte Bauern sehen alljährlich keine andere Alternative als den Freitod. Sie lassen Familien im Elend zurück. Für die heiratsfähigen Kinder bietet die Hochzeit en bloc einen Strohhalm, an dem sie sich aus der Ausweglosigkeit zu ziehen hoffen. Sie besitzen buchstäblich nichts mehr. Die Hochzeitsgeschenke, so bescheiden sie auch ausfallen mögen, sind der Grundstein für einen neuen Anfang.
Nicht nur die Gemeinschaftshochzeiten finden Erwähnung in den Medien. Kürzlich sorgte das »Gegenteil«, die Scheidung, für Schlagzeilen. Das Hindu-Heiratsgesetz, das ebenso für die Minderheiten der Buddhisten, Sikhs und Jains gilt und auch die Modalitäten für eine Scheidung beinhaltet, und das Sonderheiratsgesetz, das auf Eheschließende und Scheidungswillige verschiedener Konfessionen und Ausländer zutrifft, sollen zumindest in einem Punkt ergänzt werden. Der dem Parlament vorgelegte Entwurf sieht als neuen akzeptablen Scheidungsgrund eine »irreparabel zerrüttete« Ehe vor. Bislang waren Ehebruch, Grausamkeit, Verlassen, aus besonderen Umständen entstandener Frust (was auch immer der Gesetzgeber darunter versteht), sowie gegenseitiges Einverständnis die offiziellen Gründe. Scheidungsprozesse, die sich oft über Jahre hinziehen, würden nach Ansicht der Initiatoren mit dieser Gesetzesergänzung wesentlich beschleunigt werden.
Doch die Reaktionen der Öffentlichkeit, so eine Umfrage unter Ehepaaren in städtischen Zentren, sind geteilt. Viele halten die Ergänzung für einen »Import« aus der westlichen Welt, mit der sich der traditionsbewusste Inder zumindest in dem Punkt nicht vergleichen möchte. In Indien liegt die Scheidungsrate bei 1,1 Prozent, in den USA und Europa bei über 30 Prozent. 62 Prozent der Befragten befürchten einen dramatischen Anstieg der Scheidungsrate und einen Verlust sozial-kultureller Werte Indiens, zu denen der sakrosankte Status der Familie gehört. 74 Prozent der Befragten ahnen verheerende Auswirkungen auf Kinder, wenn sich die Eltern trennen. Und 52 Prozent glauben gar, der Bestand der indischen Familie werde aufs Spiel gesetzt, wenn es die Ergänzung geben sollte. Deshalb ist fraglich, ob die Regierung tatsächlich in dieses Wespennest stechen will. Zu den Massenhochzeiten hingegen scheint gesellschaftlicher Konsens zu bestehen.
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