Daniel Ortegas zweiter Versuch
Nicaragua: Die Sandinistische Befreiungsfront bekämpft Armut und Hunger durch staatliche Sozialprogramme. Dennoch steht Präsident Ortega in der Kritik
Der vergangene Wahlkampf Ortegas war ein Novum in der Geschichte der FSLN. Sie präsentierte sich darin als Partei, die eine ernsthafte Versöhnung mit ihren einstmaligen Gegnern anstrebt. Die Sandinisten sangen nicht mehr ihre Parteihymne »himno de la unidad« (Hymne der Einheit), in der die USA als ein »Feind der Menschheit« bezeichnet wird, sondern verwendeten John Lennons »Give Peace a Chance« als friedenspolitisches Signal an die parteipolitische Konkurrenz. Die Parteifarbe wechselten vom traditionell sandinistischen Rot-Schwarz zu einem optisch weniger aggressiven Rosa. Außerdem betont Ortega bei jeder Gelegenheit seinen christlichen Glauben. Jaime Morales Carazo, während der US-amerikanischen Militärintervention der 80er Jahre eine führende Figur der Contra-Guerilla, ist heute Vizepräsident Nicaraguas.
150 Millionen Dollar gegen den Hunger
Zu Beginn von Ortegas Präsidentschaft initiierte die FSLN das Nahrungsmittel-Produktionsprogramm (»hambre cero« – Null Hunger). In der gegenwärtigen Legislativperiode will die Regierung bis zu 150 Millionen US-Dollar investieren, um 75 000 Familien aus der Armut herauszuholen. Im Rahmen des Programms bietet die FSLN zum einen Babynahrung und Schulspeisungen. Zum anderen wird armen Familien geholfen, eine unabhängige Existenz zu gründen: Kühe, Säue, Viehfutter, Kleinvieh, Saatgut, Zaundraht, Werkzeuge und andere Mittel zur Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion werden an sie verteilt.Für den Beginn der Umsetzung wählte die Regierung die rückständigsten ländlichen Gebiete Nicaraguas. Die Durchführung leisten verschiedene Nichtregierungsorganisationen. Finanziert wird das Programm unter anderem durch Haushaltsmittel und mit einem Kredit der Interamerikanischen Entwicklungsbank. Das Welternährungsprogramm und die EU haben ihre Zuschüsse für 2009 gestrichen. Wer die Finanzhilfe bekommt, entscheiden die »Komitees der Bürgermacht« (CPC).
Die Komitees werden seit Sommer 2007 von der FSLN eingesetzt. Im Parlament fand sich keine Mehrheit für die CPC. Ortega ignorierte das Votum der Abgeordneten und führte sie daraufhin per Dekret ein. Das Verfassungsgericht bestätigte dieses Vorgehen. Ortegas Ehefrau und rechte Hand Rosario Murillo koordiniert die Komitees auf nationaler Ebene. Bezahlt werden sie vom Staat. Für die FSLN sind sie Elemente einer direkten Volksdemokratie.
Die Komitees sind mit einem eigenen Haushalt ausgestattet. Ihre Aufgabe ist es, sich um kommunale Angelegenheiten zu kümmern. Sie dienen als Anlaufstelle für die Bürger, um Anliegen jeglicher Art vorzubringen. Auch verwalten sie die staatlichen Sozialprogramme. Mehrheitlich befinden sich die CPC in Händen der FSLN.
Einem Teil der Linken passt der Versuch, Nicaragua zu demokratisieren, offenbar ganz und gar nicht. Die Komitees bevorzugen bei der Umsetzung von »hambre cero« Mitglieder der Frente Sandinista, so ein gängiger Vorwurf. Klaus Heß vom Wuppertaler Informationsbüro Nicaragua sieht die CPC sogar als »Kern einer neuen Klientelwirtschaft«. Der basisdemokratische Schein trüge, weiß Karl Burgmaier, ein ehemaliger Entwicklungshelfer des Deutschen Entwicklungsdienstes in Nicaragua, zu berichten. Und Gaby Gottwald, Mitarbeiterin der Linksfraktion im Bundestag, malt das Gespenst eines totalitären Staates an die Wand: »So ist zu befürchten, dass sich die Strukturen der ›direkten Demokratie‹ bald als Strukturen der direkten Kontrolle durch Partei und Staat entpuppen werden.« Oha! Man könnte meinen, Ortega baut einen autokratischen Einparteienstaat nach Orwellschem Vorbild auf. Ein absurder Vorwurf. Denn durch die CPC wird den Menschen ermöglicht, Politik zu gestalten und an einem Wandel Nicaraguas mitzuarbeiten.
Zur Amtsübernahme Ortegas im Januar 2007 konnten etwa 24 Prozent der 5,9 Millionen Einwohner weder schreiben noch lesen. Mit kubanischer und venezolanischer Hilfe wurde das Alphabetisierungsprogramm »Yo Si Puedo« (Ja, ich kann) umgesetzt. Die Kampagne begann 2005 und hat bis etwa Mitte 2007 mehr als 125 000 Menschen alphabetisiert. Sie richtet sich ausschließlich an Menschen, die das 15. Lebensjahr bereits abgeschlossen haben. Das Ziel einer umfassenden Grundschulbildung verfolgt die FSLN dadurch, dass sie allen Kindern einen unentgeltlichen Schulbesuch ermöglicht. Das Tragen einer Schuluniform ist nicht mehr zwingend vorgeschrieben, so dass arme Familien diese nicht mehr anschaffen müssen. Auch wird an den öffentlichen Schulen Nicaraguas eine Mahlzeit unentgeltlich an die Schüler ausgegeben.
Im August des vergangenen Jahres feierten die Sandinisten den Sieg über den Analphabetismus. Wie Ortega erklärte, sei der Anteil der erwachsenen Bevölkerung, der weder lesen noch schreiben kann, von 21 auf 3,56 Prozent gesunken. Das habe auch die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) bestätigt. Nach deren Kriterien gilt ein Staat als frei von Analphabetismus, wenn die Quote unter vier Prozent der Bevölkerung sinkt. Damit ist Nicaragua nach Venezuela, Kuba und Bolivien das vierte Land der ALBA (Bolivarianische Alternative für Amerika), das diesen Erfolg feiern kann.
Kurz nach dem Amtsantritt Ortegas wurde in Nicaragua die Gesundheitsversorgung wieder kostenlos. In der Bevölkerung aber genießt das öffentliche Gesundheitssystem ein niedriges Ansehen. Die Krankenhäuser sind überfüllt, stundenlanges Warten vor einer Konsultation muss in der Regel einkalkuliert werden. Die Medikamente sind knapp, technisches Gerät ist oft veraltet oder fehlt ganz. Bevorzugt werden von den Nicaraguanern – insofern sie es sich leisten können – Privatkliniken, die auch weiterhin existieren.
Die FSLN-Regierung erhöhte außerdem am 1. Juni 2007 den gesetzlichen Mindestlohn von 77 auf 90 US-Dollar, was einem Anstieg um 18 Prozent entspricht.
Noch vor dem Amtsantritt Ortegas – im Oktober 2006 – hatte das Parlament in Managua ein Abtreibungsverbot beschlossen, das auch einen Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen Gründen unter Strafe stellt. 28 Abgeordnete der FSLN stimmten für das Verbot. Die katholische Kirche begrüßte die Gesetzesänderung; Feministinnen laufen dagegen Sturm und fordern die Rücknahme.
Annäherung an Kuba und Venezuela
Die aktuelle Außenpolitik Nicaraguas ist durch die Politik der lateinamerikanischen Integration gekennzeichnet. Diese geht auf eine Initiative der Bolivarianischen Regierung Venezuelas zurück. Kuba und Venezuela riefen Ende 2004 das Projekt ALBA ins Leben. Dieses setzt sich einen gleichberechtigten Handel der lateinamerikanischen Staaten untereinander als Ziel. Das Bündnis ist ein Gegenstück zu der amerikanischen Freihandelszone ALCA, die von den USA für den Doppelkontinent angestrebt wird.Mit der Amtseinführung Daniel Ortegas am 10. Januar 2007 wurde auch der Eintritt Nicaraguas in die ALBA vertraglich beschlossen. Entsprechend sind neben den USA auch Kuba, Venezuela, Bolivien und Ecuador, die ebenfalls dem Bündnis angehören, wichtige Handelspartner. Havanna stellt Nicaragua medizinisches Gerät und Personal sowie Lehrmaterial und -kräfte zur Verfügung. Kuba hat großen Anteil daran, dass in Nicaragua der Analphabetismus besiegt wurde. Venezuela, fünftgrößter Erdölproduzent weltweit, lässt Nicaragua 150 000 Barrel Öl täglich zu Vorzugspreisen zukommen, um das chronische Energieproblem des Landes zu beheben.
Daniel Ortega lässt kaum eine Möglichkeit aus, die USA verbal zu attackieren. Doch Managua pflegt gute Wirtschaftsbeziehungen mit Washington: Noch immer ist Nicaragua Mitglied in der zentralamerikanischen Freihandelszone CAFTA, dem neben den USA auch die mittelamerikanischen Länder Honduras, El Salvador, Costa Rica, Guatemala und der Karibikstaat Dominikanische Republik angehören. Somit werden noch immer nicaraguanische Märkte mit Produkten aus der US-amerikanischen Landwirtschaft überschwemmt. Da einheimische Kleinbauern gegen diese mit industriellen Maschinen arbeitenden Landwirtschaftsbetriebe preislich nicht konkurrieren können, verlieren sie ihre Existenz und landen als industrielle Reservearmee vor den Toren der Fabriken.
Die Politik Ortegas wird von einem Großteil der Linken in Deutschland kritisiert. Ihnen missfällt die Parteiführung der FSLN. Sie charakterisieren Ortegas Regierungsstil als autokratisch und unterstellen ihm, demokratische Freiheiten zu unterdrücken. Der nicaraguanische Präsident ist für sie inzwischen ein Caudillo, ein autoritärer und willkürlicher Herrscher. Fortschrittliche Impulse seien von ihm nicht zu erwarten.
Stets wird Kritik an einem politischen Abkommen Ortegas mit dem Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán von der Liberal-Konstitutionalistischen Partei (PLC) geübt. Alemán hatte Millionen-Gelder veruntreut und wurde im Dezember 2003 zu 20 Jahren Arrest verurteilt. Transparency International führte ihn 2004 als einen der zehn korruptesten Staatspräsidenten der vergangenen Jahre.
Durch den Pakt mit Aleman erlangte die FSLN die Kontrolle über den Justizapparat. Rechnungshof, Bankenaufsicht, Wahlrat und weitere Institutionen wurden mit Vertrauten der beiden Politiker besetzt. Außerdem änderte man das Wahlrecht: Nun reichte bei Parlamentswahlen im ersten Gang eine relative Mehrheit von 35 Prozent zum Sieg, wenn die zweitstärkste Partei fünf Prozentpunkte zurückliegt. Möglich wurde das alles durch eine Mehrheit von FSLN und PLC im Parlament. Im Januar 2009 wurde die Haftstrafe des korrupten Ex-Präsidenten aus Mangel an Beweisen aufgehoben.
Durch den Pakt hat Ortega das liberale Lager in Anhänger Arnoldo Alemáns und dessen Gegner gespalten – und somit erst seinen Wahlsieg möglich gemacht. Denn gegen vereinte Liberale hatte er bei den Präsidentschaftswahlen mehrfach den Kürzeren gezogen. Ohne die Klüngelei mit Alemán wäre Ortega 2006 vermutlich wieder an der Wahlurne gescheitert. Weder die Sozialprogramme noch die Alphabetisierungskampagne wären dann zustande gekommen. Auch hätte ein liberaler Präsident Nicaragua niemals in das ALBA-Bündnis geführt. Das Land wäre unter liberaler Flagge weiterhin ein Brückenkopf des US-Kapitals in der Region. Die Zusammenarbeit mit Alemán ist also kein Pakt mit dem Teufel, sondern ein notwendiges Übel, um in Nicaragua gegenwärtig eine andere Politik durchzusetzen.
Einfall der Heuschrecken
Nach der Wahlniederlage der FSLN 1990 haben die folgenden Regierungen alles daran gesetzt, die Errungenschaften der Revolution rückgängig zu machen. Buchstäblich wie ein Heuschreckenschwarm fiel das Kapital in Nicaragua ein und privatisierte Schulen, Universitäten, Krankenhäuser sowie die Strom- und Wasserversorgung. Weltbank und Internationaler Währungsfonds hatten ihre helle Freude an der Privatisierungsorgie, die 1990 begann. Dass die Frente Sandinista diesen Trend – zumindest in der Gesundheits- und Bildungspolitik – umgekehrt hat, ist ihr hoch anzurechnen. Medizinische Versorgung ist genauso wie Bildung ein Menschenrecht. Und dafür bezahlt man nicht. Das weiß auch Daniel Ortega.Die Reformansätze der nicaraguanischen Demokratie – Stichwort CPC – gehen in die richtige Richtung. Wie weit diese Komitees von den Menschen akzeptiert werden, lässt sich bisher nur vermuten. Noch zu frisch ist diese Experiment. Dagegen wirkt die Zusammenarbeit Ortegas mit der katholischen Kirche aufgesetzt. Es ist eine Zweckgemeinschaft: Die Katholiken versprechen sich, dass nicht noch mehr Gläubige zu den evangelikalen Sekten überlaufen. Die FSLN beabsichtigt, durch das Bündnis Wählerschichten anzusprechen, die der Partei traditionell fremd sind. Das strikte Abtreibungsverbot, das die katholische Kirche und Teile der FSLN befürworten, ist für Linke nicht akzeptabel.
Die Frente Sandinista hat in den vergangenen dreieinhalb Jahren eine klare Linie vermissen lassen. Außenpolitisch fährt Daniel Ortega einen Zick-Zack-Kurs zwischen CAFTA und ALBA. Innenpolitisch könnte Ortega konsequenter handeln – und sich beispielsweise die Großgrundbesitzer und Fabrikanten zur Brust nehmen. Vergesellschaftung privatwirtschaftlicher Unternehmen hat es in den vergangenen dreieinhalb Jahren nicht gegeben.
Es ist also noch offen, wohin Ortegas politische Reise – vorausgesetzt, er wird im kommenden Jahr wiedergewählt – gehen soll. Eins aber ist nicht zu leugnen: Seine bisherige Politik ist ein deutlicher Fortschritt gegenüber der Amtszeit von Enrique Bolanos, der Nicaragua von 2002 bis 2007 regierte. Wenigstens das sollte man anerkennen.
Der Text ist eine leicht bearbeitete und stark gekürzte Fassung eines Beitrags, der im August-Heft der Marxistischen Blätter erscheint.
www.marxistische-blaetter.de
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