»Damit Krieg planbar wird«

Wie wird man Totalverweigerer? Stefan hat einfach zu Ende gedacht. Heute steht er vor Gericht

  • Ulrike Gramann
  • Lesedauer: 7 Min.
Stefan Gierke ist 20. Aus Gewissensgründen verweigert er nicht nur den Dienst an der Waffe, sondern auch den Zivildienst. Geschätzt gibt es pro Jahr rund zehn gewissensmotivierte Totalverweigerungen in Deutschland. Manche erklären ihre Totalverweigerung, nachdem sie zur Bundeswehr einberufen sind. Andere sind anerkannte Kriegsdienstverweigerer und entscheiden sich bei Einberufung zum Zivildienst. Zur Zeit sind drei laufende Strafverfahren gegen Totalverweigerer bekannt. Sollte Ende 2010 die Wehrpflicht tatsächlich ausgesetzt werden, könnte Stefan Gierke einer der letzten rechtskräftig verurteilten Totalverweigerer sein.
Stefan Gierke ist 20. Aus Gewissensgründen verweigert er nicht nur den Dienst an der Waffe, sondern auch den Zivildienst. Geschätzt gibt es pro Jahr rund zehn gewissensmotivierte Totalverweigerungen in Deutschland. Manche erklären ihre Totalverweigerung, nachdem sie zur Bundeswehr einberufen sind. Andere sind anerkannte Kriegsdienstverweigerer und entscheiden sich bei Einberufung zum Zivildienst. Zur Zeit sind drei laufende Strafverfahren gegen Totalverweigerer bekannt. Sollte Ende 2010 die Wehrpflicht tatsächlich ausgesetzt werden, könnte Stefan Gierke einer der letzten rechtskräftig verurteilten Totalverweigerer sein.

Nicht einmal lügen hätte er müssen. Ein kleines »Ich weiß noch nicht« hätte genügt, als er vor anderthalb Jahren im November gefragt wurde, ob er bei der Bundeswehr dienen oder Zivildienst leisten möchte. Vielleicht wäre er dann ausgemustert worden. Seine Chancen standen nicht schlecht, 46 Prozent aller Kandidaten wurden 2008 ausgemustert. Doch Stefan Gierke ließ es nicht darauf ankommen und entschied sich für den Zivildienst. Zunächst zumindest. Bereut er heute seine Ehrlichkeit? »Wäre ich ausgemustert worden, würde ich die Welt heute anders sehen. Vielleicht hätte ich weniger nachgedacht.« Mit Sicherheit würden ihm einige Erfahrungen fehlen, die er Gleichaltrigen nun voraus hat. Denn am Ende seines Nachdenkens verweigerte Stefan auch den Dienst im Krankenhaus.

Einer von zehn

Der Abiturient, der in Berlin-Spandau aufgewachsen ist und ab Herbst 2010 Physik studieren wird, »konnte Waffen noch nie leiden«. Das klingt nach viel Gefühl. Aber wenn es um die Gründe seiner Verweigerung geht, verfügt der sonst so freundliche junge Mann auch über druckreife Sätze, denen man lange Stunden des Nachdenkens anhört. Ein Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen kann heute, abhängig von der Schulbildung des Antragstellers, sehr kurz sein. Selbst von Gymnasiasten wird kaum eine Seite Begründung erwartet, wenn nur die richtigen Stichworte fallen. Und die findet man im Internet. Stefan schreibt trotzdem fünf, sechs sehr persönliche Seiten. »Ich hatte Kumpels, die aus Kosovo und Kurdistan kamen. Daher wusste ich, was Krieg bedeutet.« Seine Gründe werden akzeptiert. Im Januar 2009 bewirbt er sich bei seiner späteren Dienststelle, dem Malteser-Krankenhaus Berlin. Dort arbeitet ein Zivildienstleistender in der technischen Abteilung, zusätzlich zu drei fest angestellten Hausmeistern. Es gibt einen zweiten Bewerber. Stefan verspricht, pünktlich und zuverlässig zu sein, er wird angenommen.

Damals kommen ihm erste Zweifel: Die drei Hausmeisterstellen sind der klägliche Rest von einstmals zehn. »Man konnte heraushören, wie dringend der Zivi benötigt wird.« Gesetzlich vorgeschrieben ist, dass der Zivildienst »arbeitsmarktneutral« zu sein hat. In Stefan rumort es. Warum hat »der Staat« überhaupt das Recht, ihn einzuziehen? Im Grundgesetz liest er, dass der Zivildienst den Dienst an der Waffe ersetzen soll. »Dann ist er ja ein Teil der Wehrpflicht, kein sozialer Dienst!« Für den Kriegsfall steht fest, wie Zivildienstleistende eingesetzt werden. Stefan findet, »dass auch damit Krieg planbar gemacht wird«.

Pflichtbewusst schiebt Stefan die Zweifel beiseite für eine andere Pflicht – das Abitur. Aber nach den Prüfungen sind die Zweifel wieder zur Stelle. Stefan geht zu einer antinationalistischen Demonstration, und in Dresden, hört er, wird ein Anschlag auf Bundeswehrautos verübt. »Ich wurde politischer und habe mir Gedanken darüber gemacht, was ich eigentlich tue.« Stimmt er Brandanschlägen zu? »Nein. Aber ein Offizier sagte im Interview, ein Anschlag auf die Bundeswehr sei ein Anschlag auf die Demokratie. Was haben Militär und Demokratie gemeinsam? Das hat mich mehr beschäftigt als abgebrannte Autos.«

Die meisten der jährlich etwa zehn Totalverweigerer treffen ihre Entscheidung sehr bewusst und allein. Stefan kennt im Frühling 2009 keinen einzigen anderen, nur Blogs von Totalverweigerern im Internet. Er ist entschlossen, aber er will auch keinen Ärger machen. »In meiner Familie hatte noch nie jemand mit dem Gericht zu tun.« Stefan informiert sich, in welchem Rahmen sich die Urteile für Totalverweigerer bewegen. Er liest viel: Brechts »Furcht und Elend des Dritten Reiches«, die »Flüchtlingsgespräche«. Er denkt über Erzählungen seiner Oma nach, die als Jugendliche Hitler unterstützte und dies später tief bereute. Eine Stelle aus »Hamlet« kann er auswendig: »Sei dir selber treu und daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage, du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.« Wo nimmt er das her, so genau? Ein Onkel aus dem Osten hat darüber mit ihm diskutiert, »ein alter Sozialist«, Lehrer für Deutsch und Staatsbürgerkunde. »Freigeistig« sei der gewesen, nicht linientreu, einer, für den sich Eltern nach 1989 einsetzten, damit er Lehrer bleiben konnte. Stefan, der sonst fast gemütlich wirkt, sagt es mit Pathos.

Totalverweigerung ist eine radikale Entscheidung: bewusst, öffentlich, mit dem eigenen Gesicht und auch bei Strafe für eine Überzeugung einzustehen. Steckt dahinter eine Ideologie? Stefan hat Marx gelesen und Texte über Anarchie, Trotzkismus, kritische Theorie. »Das war schwere Kost.« Marxist oder Anarchist ist er nicht geworden: »Gar nichts mit -ist.« Er diskutiere auch mit Leuten, die weniger gelesen haben, will kein Eigenbrötler sein. »Die haben ihre Inspiration eben anderswo her.«

Einige Freunde haben Zivildienst geleistet, obwohl sie das als verlorene Zeit ansahen. Einer ging sogar freiwillig zur Bundeswehr. Stefan hat sich mit ihm auseinandergesetzt, sie haben einander verstanden und ihre Entscheidung doch nicht geändert. »Wenn ihm etwas passieren würde, würde ich um den Freund trauern, um den Soldaten trauern könnte ich nicht.« Bei anderen toleriert er eine Trennung in privat und dienstlich, für sich nicht. Er weiß, damit ist er »nicht so kompatibel mit der Welt«.

Er möchte allen gerecht werden, wenn er es schon nicht allen recht machen kann. Unter dem Druck der eigenen Zuverlässigkeit ersinnt er eine Strategie: bei Dienstantritt erklären, dass und warum er keinen Zivildienst leisten kann, danach noch zwei Wochen bleiben, in denen Ersatz gefunden werden kann. »Die Malteser konnten ja nichts für meine moralischen Bedenken.« Er geht hin, am 3. August 2009, und tut, was ihm aufgetragen wird. Er ist neu, fremd, keiner spricht mit ihm, allein schleppt er Patientenakten aus einem Keller. Dann macht er »klar Schiff«. Bei der Caritas Reinickendorf, der das Malteser-Krankenhaus untersteht, schicken ihn die Frauen, denen er seine Entscheidung erläutert, mit den Worten weg: »Sie sind ein Kämpfer für eine bessere Welt.« Anschließend erstatten sie Anzeige. Sollte Stefan deswegen wütend sein, merkt man es ihm nicht an. Hatte er keine Angst, im Gefängnis zu landen? »Die Wahrscheinlichkeit war gering, das hat mich beruhigt.« Er lacht, er lacht oft und ein bisschen zu laut, da ist auch Unsicherheit. Pazifist nennt er sich nicht, aber er lehnt Gewalt, egal in welchem Kontext, ab. Das ist wohl doch Pazifismus.

Warum nicht am 1. September?

Im Januar 2010 findet der Prozess vor dem Amtsgericht Berlin statt. Stefan geht hin, ohne Anwalt, und vertritt sich selbst. Es ist nicht wie bei einer Prüfung, er spürt keine Aufregung, nur diese Intensität, als sei er da und zugleich auch nicht. An jedes Stiftklappern kann er sich erinnern. »Gerichtssäle sind so groß, dass sie einen erschlagen.«

Und dann packt er seine Strafprozessordnung aus, sein Grundgesetz, seine persönliche Erklärung. Er erwähnt, dass das Zivildienst-Amt ihn ausgerechnet am 1. September aufforderte, den Dienst wieder anzutreten. Warum dieses Datum, 70 Jahre nach Kriegsbeginn, ihn in der Entscheidung bestärkte, versteht der Richter nicht. Sein Urteil ist hoch: vier Monate Haft auf Bewährung und 600 Stunden gemeinnützige Arbeit, »um die versäumte Zeit des Zivildienstes auszugleichen«, brummt er Stefan auf. Das wäre mehr als ein Vierteljahr Vollzeitarbeit, außerdem würde Stefan als vorbestraft gelten. Das macht ihn, endlich, wütend. Der Richter habe seine Argumente nicht gesehen, nur die Arbeitszeit. Das Schlimmste sei gewesen, danach nichts mehr sagen zu dürfen. Freunde und Mitschüler, auch eher unpolitische, die ihn begleiteten, sind schockiert. In der Schule haben sie gelernt, dass sie in einem demokratischen Rechtsstaat leben. Diese Gewissheit wird nun zum ersten Mal erschüttert. An diesem Tag geht Stefan spät nach Hause, froh, dass die besorgten Eltern gearbeitet und nicht im Gerichtssaal gesessen haben.

Stefan hat, nun doch mit Anwalt, Berufung gegen das Strafmaß eingelegt. Bei der Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung arbeitet er seit Februar ehrenamtlich mit, hilft im Büro, verfasst eine Dokumentation über Prozesse gegen Totalverweigerer. Die 600 Stunden, die er zwangsweise ableisten soll, hat er hier aus freien Stücken gearbeitet. Bis Semesterbeginn will er weitermachen. Das sei sozial, sagt er, »keine Sühnehandlung«. Die Totalverweigerung ist Alltag geworden, sogar für seine Eltern: »Wir machen Witze.« Heute findet die Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Berlin statt.

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