Aus Zeugen werden doch noch Angeklagte
Staatsanwaltschaften kommen nicht umhin, sich endlich um Demjanjuks SS-Kumpane zu kümmern
65 Jahre nach dem Ende des Nazi-Völkermordens werden ehemalige SS-Männer und deren Helfer doch noch von der Geschichte eingeholt – so wie auch die (west-)deutsche Justiz, die Aufklärung, Be- und Verurteilungen systematisch hintertrieb. Während der Prozess gegen den gebürtigen Ukrainer Iwan Demjanjuk (89) – er ist angeklagt, zwischen März und September 1943 als Aufseher im Vernichtungslager Sobibor an der Ermordung von mindestens 27 900 Menschen beteiligt gewesen zu sein – nicht so recht vorankommt, laufen verschiedene Ermittlungen gegen ehemalige SS-Angehörige oder deren Helfershelfer.
Die Staatsanwaltschaft in Dortmund erhob beispielsweise Anklage gegen einen 88-Jährigen. Der Vorwurf: Samuel Kunz soll Beihilfe zum Mord an 430 000 Juden geleistet haben. Er ist beschuldigt, von 1942 bis 1943 im KZ Belzec, das wie Sobibor im damals von Deutschland besetzten Polen betrieben wurde, am Massenmord an Juden beteiligt gewesen zu sein. Der Beschuldigte lebt bei Bonn.
Was der sogenannte Volksdeutsche während der Hitlerzeit trieb, war den Justizbehörden keineswegs unbekannt. Pikant ist dennoch, wie man Kunz »auf die Spur gekommen« ist. Er sollte als Zeuge im Demjanjuk-Prozess aussagen. Da schwer ein Unterschied zwischen den Taten von Demjanjuk und Kunz zu machen ist, kam die Justiz nicht um Ermittlungen herum.
Auch im Fall des ehemaligen Aufsehers N., der im bayerischen Landshut lebt, ist das so. Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von Nazi-Verbrechen in Ludwigsburg hat ihre halbjährigen Ermittlungen gegen N. abgeschlossen und den Fall der Münchner Staatsanwaltschaft übergeben. N. war bereits im Februar als Zeuge zur Demjanjuk-Verhandlung geladen.
N. ist wie Kunz und Demjanjuk ein sogenannter Trawniki gewesen. Im besetzten gleichnamigen Ort hatte die SS Hilfswillige gedrillt, die dann zumeist in KZ eingesetzt wurden. In früheren Prozessen hatte die Justiz den Täter-Begriff extrem eng gefasst und ließ selbst hochrangige Organisatoren des Mordens laufen. Man konnte ihnen angeblich keine individuelle Tat nachweisen. Der Kommandanten des Ausbildungslagers Trawniki, SS-Sturmbannführer Karl Streibel beispielsweise, war vom Landgericht Hamburg im Jahr 1976 freigesprochen worden.
Ins Blickfeld von Ermittlern geriet auch der Nazi-Verbrecher Klaas Carel Faber. Er lebt seit Jahrzehnten unbehelligt in Ingolstadt. Nach Überzeugung der niederländischen Justiz hat der gebürtige Holländer als SS-Mitglied 22 Morde begangen. Nun hat Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) das bayerische Justizministerium aufgefordert, etwas zu unternehmen. Sie fordert, dass endlich geprüft wird, was man machen kann, um entweder eine Auslieferung zu erreichen, damit Faber in ein Gefängnis des Nachbarlandes kommt, oder ob ein Verfahren in Deutschland einzuleiten ist.
In den Niederlanden war Faber zum Tode verurteilt worden. Das Urteil wurde 1948 in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. 1952 floh er aus dem Gefängnis. Der 88-Jährige kann auf der Grundlage deutschen Rechts nicht an die Niederlande ausgeliefert werden. Ein 1943 von Hitler formulierter Erlass verhindert das. Der Diktator hatte verfügt, dass jeder Ausländer, der in die Waffen-SS eintrat, automatisch deutscher Staatsbürger wurde. Und die werden nicht ausgeliefert.
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