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Plan und Markt als organische Einheit

Die sechziger Jahre: das wirtschaftshistorisch interessanteste Jahrzehnt der DDR

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 6 Min.
Konsum und Klassenkampf – das Centrum Warenhaus am Berliner Alexanderplatz in festlichem Gewand, 1967
Konsum und Klassenkampf – das Centrum Warenhaus am Berliner Alexanderplatz in festlichem Gewand, 1967

Jeder »gelernte DDR-Bürger« verfügt über einen ganz persönlichen Blick auf dieses Land und wird das beste Jahrzehnt der DDR entsprechend seinen individuellen Erfahrungen bestimmen. Wenn ich hier vom interessantesten Jahrzehnt spreche, dann leite ich dieses Urteil nicht aus meiner Biografie ab, sondern betrachte die ostdeutsche Republik aus der Analyse heraus, an welches Erbe der DDR zu erinnern auch bei Überlegungen für die Gestaltung von Deutschlands Zukunft von Interesse sein könnte.

Literaturhistoriker werden die Frage anders beantworten als diejenigen, die sich mit Technikgeschichte befassen, Rechtshistoriker wieder anders als jene, die auf dem Gebiet der Sozialgeschichte arbeiten. Für mich Wirtschaftshistoriker sind die sechziger Jahre in der DDR am interessantesten. In dieser Zeit, genau genommen in den Jahren 1963 bis 1970, wurden in der DDR-Wirtschaft im Rahmen des »Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft« (NÖS) Reformen durchgeführt, die nicht nur von der Verträglichkeit von Plan und Markt, sondern von deren gegenseitiger Befruchtung im Interesse einer stabilen Entwicklung und der beschleunigten Modernisierung der Volkswirtschaft ausgingen.

Walter Ulbricht hat dieses Vorgehen 1967 auf dem VII. Parteitag der SED so begründet: »Zur sozialistischen Planwirtschaft, wie sie der voll ausgebildeten sozialistischen Ökonomik entspricht«, gehören »sowohl die regulierende wirksame gesellschaftliche Planung und Organisation der Volkswirtschaft im gesamtstaatlichen Maßstab als auch die konsequente Entfaltung der sozialistischen Warenwirtschaft. Beides bildet eine organisatorische Einheit.« Ulbricht beschloss diesen Abschnitt seiner Rede mit dem Satz: »Die gesellschaftlichen Erfordernisse sind grundlegender und umfassender als die Markterfordernisse. Aber wer den Markterfordernissen nicht genügt, kann auch den gesellschaftlichen Erfordernissen nicht entsprechen.«

Eine aus Regulierung per zentralen staatlichen Plan einerseits und auf Markterfordernisse reagierenden Betrieben andererseits zusammengesetzte Wirtschaftslenkung wird in der angloamerikanischen Wirtschaftslehre als Mixed Economy bezeichnet. Zu den wesentlichen Merkmalen dieser »Mischwirtschaft« gehört die Koexistenz privater und staatlicher Wirtschaftsunternehmen. Dieses Merkmal der Mixed Economy traf auch auf das NÖS zu. Jeder sechste Beschäftigte in einem Industriebetrieb der DDR arbeitete während der 60er Jahre nicht in einem VEB, knapp 350 000 davon in sogenannten halbstaatlichen Betrieben. Privatbetriebe und Betriebe mit staatlicher Beteiligung waren Erbe einer spezifischen – in anderen Staaten Osteuropas so nicht verfolgten – Eigentumspolitik in der DDR. Erstmals im NÖS konnten diese mittelständischen Unternehmen – die durchschnittliche Firmengröße lag bei 60 Personen – im Verbund der Erzeugnisgruppen zwar nicht konfliktlos, aber doch diskriminierungsfrei mit staatlichen Unternehmen zusammenarbeiten.

Die DDR-Wirtschaft war also während des NÖS eine Mixed Economy und eine erfolgreiche dazu, wenn man die Stabilisierung der wirtschaftlichen Wachstumsraten nach der Krisensituation von 1960 bis 1962 und unter dem Aspekt der innovativen Umgestaltung der Wirtschaftsstruktur von den Schwer- auf die »Fortschrittsindustrien« (Elektrotechnik, Elektronik, Gerätebau) betrachtet. Es handelte sich um eine Mixed Economy auf sozialistisch-planwirtschaftlicher Grundlage. Auch daran hat Ulbricht in seinen Ausführungen 1967 keine Zweifel gelassen, wenn er vom Zusammenspiel von Plan und Markt bei der Lenkung der DDR-Wirtschaft sprach: »Der bestimmende Faktor in dieser organischen Einheit ist und bleibt die gesellschaftliche Planung und die hierauf begründete bewusste rationelle Organisation der Volkswirtschaft.«

Aber auch so war der Übergang von der bis dahin angestrebten »reinen« sozialistischen Planwirtschaft zur einer gemischten Wirtschaft ein bemerkenswerter Schritt. Claus Krömke, einer, der von Anfang an bei der Propagierung des NÖS eine Rolle spielte, schreibt darüber in seinen Erinnerungen: »Es ging um Akzeptanz des NÖS bei breiten Funktionärsschichten in einer von Stalins Schrift ›Ökonomische Probleme des Sozialismus‹ und von der Ablehnung der Warenproduktion wie der Wertkategorien geprägten theoretisch-ideologischen Atmosphäre. […] Gegenüber der kanonisierten Lehre über die Politische Ökonomie […] war das NÖS eine Gedankenrevolution – gewissermaßen der Weg vom Mittelalter zur Aufklärung.«

Eine Revolution bedeutete vor allem die Abkehr vom dichotomen Denken, das davon ausging, dass man eine Wirtschaft erfolgreich nur nach dem Plan lenken könne bzw. – so glaubte die andere Seite – nur effizient über den Markt. Dementsprechend begriff man in der Bundesrepublik seinerzeit nicht gleich, was da im Osten vor sich ging: »Pankow entdeckt den Kapitalismus«, »Zone rechnet mit Kapitalzins«, »Ulbricht wird liberal – in Zukunft marktwirtschaftliche Methoden in der Zone«, so lauteten die Schlagzeilen in den westdeutschen Printmedien nach der Wirtschaftskonferenz vom Juli 1963, als Walter Ulbricht und Erich Apel das NÖS erstmals der Öffentlichkeit vorstellten.

Nicht zu begreifen war das NÖS allerdings auch von einer Gruppe hoher SED-Funktionäre, die von Ulbrichts Stellvertreter Honecker bis zum Finanzminister Willy Rumpf reichte. Diese Genossen verlangte es – immer mit Blick auf die sowjetischen Verhältnisse – nach Rückkehr zur »reinen« Planwirtschaft. Sie setzten das dann auch nach dem Sturz Ulbrichts im Frühjahr 1970 tatsächlich unverzüglich durch. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Rückkehr zur ökonomischen Orthodoxie und das dadurch bedingte ineffiziente Wirtschaften den Übergang in eine andere, nämlich die marktradikale Orthodoxie, beschleunigte.

Als es 1990 zur deutschen Wirtschaftseinheit kam, durfte daher nicht mal ein Minimum Lenkung der Wirtschaft durch den Staat (über den Plan) übrig bleiben, kein Staatsbetrieb durfte der Privatisierung entgehen. Die Totalprivatisierung durch die Treuhandanstalt sollte den »Aufschwung Ost« sichern. Was sich schon in den 90er Jahren in den neuen Bundesländern als eine Fehleinschätzung erwies und den Osten Deutschlands bis heute wirtschaftlich zurückbleiben lässt, geriet ab 2008 in ganz Deutschland und darüber hinaus weltweit in die Krise: die neoliberale Lehre, dass der Markt schon alles richten werde. Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise hat die seit den 1990er Jahren im Ergebnis von Thatcherismus, Reagonomics usw. neoliberal gewordenen Kerngebiete der Weltwirtschaft, die amerikanischen und europäischen Industrieländer, mehr getroffen als Schwellenländer wie Brasilien, Indien oder China, die die totale »Neoliberalisierung ihrer Volkswirtschaften« verhindert haben und deren Wirtschaften in gewissem Grade (bzw. ausgeprägt wie im Falle Chinas) Mixed Economies sind.

Das Gedankenkonzept der Mixed Economies, die Kombination von staatlicher Lenkung und gleichzeitiger Regulierung über den Markt, die Transferierung von ökonomischen Kommandohöhen (z. B. Banken) in Staatseigentum ist in Zusammenhang mit den Analysen der Ursachen der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise wieder ins Gespräch gekommen. Natürlich geht es im Moment »nur« um die Gestaltung von Mixed Economies auf kapitalistischer Grundlage. Doch wenn diese erst einmal – mit der Unterstützung linker Parteien – installiert sind, sollte auch über Mixed Economies auf sozialistischer Grundlage gesprochen werden. Und dann dürfte auch die Analyse der Funktionsweise des NÖS wieder von aktuellem und nicht allein von historischem Interesse sein.

Aus diesem Grunde plädiere ich dafür, dass den für drei der vier Jahrzehnte Wirtschaftslenkung in der DDR zutreffenden beiden Sätzen im Entwurf des Parteiprogramms der LINKEN über die zentralisierte und bürokratisierte Form der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, durch die die Anziehungskraft des Ökonomischen Modells der DDR stark beeinträchtigt wurde, ein Satz über das NÖS hinzugefügt wird, der sich auf das knappe Jahrzehnt bezieht, in dem in der DDR mit dem NÖS Tendenzen der Verschwendung von Ressourcen bewusst und auch erfolgreich entgegengesteuert wurde und das jenen Abschnitt der Wirtschaftsentwicklung der DDR bildet, in dem die damals gesammelten Erfahrungen für die LINKE von Interesse für Überlegungen zur zukünftigen Wirtschaftsentwicklung in Deutschland sein sollten.

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