Vom Freund und Helfer zum Feind und Störenfried
Experten analysieren Gewalterfahrungen von Polizeibeamten und Imageverlust der Ordnungshüter
Früher sei irgendwann Schluss gewesen. Heute hingegen wisse man nie, wann Schluss sei – in jedem Fall viel zu spät, beschreibt Hartmut Dudde, Leiter der Bereitschaftspolizei Hamburg, die entgrenzten, gewalttätigen Übergriffe gegen Polizeibeamte. Beschimpfungen und Drohungen, Urinieren gegen die Einsatzfahrzeuge, Tritte und Schläge, bis hin zum rücksichtslosen Einsatz von Waffen durch häufig angetrunkene Täter gehörten mittlerweile zum normalen Alltag eines Ordnungshüters.
Laut einer Studie des Kriminologischen Instituts Niedersachsen wird jeder vierte Beamte während seiner Dienstzeit zum Opfer einer Gewalttat. »Bloß nicht hinfallen als Schutzmann, wenn man einem Mob gegenübersteht«, beschreibt Dudde die Ängste seiner meist noch jungen Kollegen. »Man weiß einfach nicht, wie's ausgeht.«
»Was wir erleben, ist ein massiver Verlust an Respekt gegenüber unseren Beamten«, pflichtete sein neuer oberster Dienstherr Heino Vahldieck (CDU) ihm bei. Beide sprachen gestern auf der Fachtagung »Die Polizei als ›Freiwild‹ der aggressiven Spaßgesellschaft?«. Geladen hatte die Hochschule der Polizei Hamburg (HdP). Der Auftritt vor rund 200 Beamten aus Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen sowie Studierenden der HdP war eine der ersten Amtshandlungen von Hamburgs neuem Innensenator, der erst vor neun Tagen vereidigt worden war.
Zu dem Erfahrungs- und Meinungsaustausch waren Sozial- und Rechtswissenschaftler, Psychologen, Spezialisten aus dem Polizeidienst und Politiker zusammengekommen. Die Experten präsentierten harte Fakten: 209 tätliche Angriffe gegen Beamte, 84 Verletzte, davon elf für einige Zeit dienstunfähig. Das ist die Bilanz in Hamburg seit Jahresbeginn. Etwa jeder fünfte Polizist, der verletzungsbedingt mehr als zwei Monate dienstunfähig sei, leide als Spätfolge an posttraumatischen Belastungsstörungen.
»Nicht selten haben die Beamten eine Spielballfunktion«, erklärt der Mannheimer Sozialwissenschaftler Rainer Kilb. Die Suche nach Erklärungen gestalte sich äußerst schwierig. Es handele sich um eine komplexe Verzahnung vieler Ursachen. »Und da bleibt noch ein irrationaler Rest«, zeigt Kilb die Grenzen der Forschung auf. Viele der Täter seien früher selbst Opfer von Gewalt gewesen. Oftmals zählten sie zu den gesellschaftlichen Losern, die sich in die Rolle des unangreifbaren Helden flüchteten. In Deutschland finde eine »Werteverschiebung« statt, meint HdP-Präsident Jörg Feldmann: »Die Polizei wird nicht mehr als Freund und Helfer betrachtet, sondern als Feind und Störenfried.« Der ehemalige Kriminalbeamte beklagt mangelnde Solidarität aus der Bevölkerung und fehlende Sanktionen. Damit liegt er ganz auf Linie von Innensenator Vahldieck. Der fordert nicht nur einen »gesamtgesellschaftlichen Schulterschluss« mit der Polizei. Er will auch die Muskeln spielen lassen und präsentierte ein umfangreiches Paket von Maßnahmen: Darunter die Einführung eines bundeseinheitlichen Lagebilds und die Verbesserung der Ausrüstung der Polizei – vor allem aber Gesetzesverschärfungen und härtere Strafen.
»Das Konzept ›mehr Härte!‹ greift nicht«, warnt Rechtswissenschaftlicher Bernd-Rüdeger Sonnen und plädiert für mehr Forschung nach den sozialen Hintergründen und Entstehungszusammenhängen der wachsenden Gewalt, die sich nicht nur gegen Repräsentanten des staatlichen Gewaltmonopols richte: »Es gibt auch Opfer von Polizeigewalt.« Statt sich unkritisch politischen Forderungen zu beugen, so Sonnens Appell an die Verantwortlichen, sollten sie sich lieber auf das wichtigste Ziel konzentrieren: Prävention und Verringerung der Rückfallkriminalität.
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