Er schämte sich seiner Lyrik
In Gohrisch, Sächsische Schweiz, fanden erstmals Internationale Schostakowitsch Tage statt
Als Festspielhaus der Internationalen Schostakowitsch Tage im ältesten Kurort der Sächsischen Schweiz diente ein landwirtschaftlicher »Bergeraum«. So lautet der Terminus technicus für eine riesige Scheune aus Betonfertigteilen mit Wellblechdach und meterhohen Ventilatoren. Geborgen werden hier sonst würfelförmige Heuballen, die zu Wällen geschichtet so etwas wie ein Freiluft-Vestibül vor der knapp 500 Zuhörer fassenden Halle ergaben.
Die protokollarischen Reden der Eröffnung ließen viel zu wenig Aufmerksamkeit übrig für den sehr erhellenden Einführungsvortrag von Krzysztof Meyer, dem Schostakowitsch-Freund, -Biografen und Komponistenkollegen, dessen 13. Streichquartett als Auftragswerk für die Festtage nach der Pause durch das »Sinus-Quartett« uraufgeführt wurde. Zuvor hatte Igor Levit mit dem Dresdner Streichquartett das Klavierquintett op. 57 zum Erklingen gebracht. Die Programmzusammenstellung der drei Tage war inhaltlich sehr ausgewogen. Einem beflügelten, klassisch-heiterem Werk folgte jeweils ein dunkelschweres Stück des Komponisten. Am Schluss des ersten Abends war es jenes 8. Streichquartett, das Schostakowitsch im Juli 1960 hier in Gohrisch komponiert hatte.
An einen Freund schrieb er damals, wie er anstatt die Filmmusik zu einer Art Doku-Märchenfilm über das Schicksal der Dresdner Kunstsammlungen herzustellen, innerhalb dreier Tage in der unvermuteten Ruhe dieses landschaftlichen Paradieses ein musikalisches Epitaph auf sich selbst verfasst hat: »Und stattdessen habe ich ein niemandem nützendes und ideologisch verwerfliches Quartett geschrieben.«
Es war eine gefährliche Zeit für Schostakowitsch, weniger akut für Leib und Leben bedrohlich, wie es in den Jahrzehnten zuvor der Fall war, als vielmehr, weil jahrelange Zermürbung ihn endlich einzuholen drohte. Im Jahr zuvor war bei ihm eine unheilbare Entzündung des Rückenmarks festgestellt worden, die zu Lähmungen der rechten Hand führte. Im April wurde er zum ersten Sekretär des Komponistenverbandes gewählt. Wenige Wochen vor seiner Dresden-Reise wurde das 7. Streichquartett in fis-Moll op. 108 uraufgeführt. Es ist eine Totenklage für seine sechs Jahre zuvor an Krebs verstorbene Frau Nina Wassiljewna. Im Juli/August dann weilte er in Gohrisch. Im September wurde er als Kandidat der Kommunistischen Partei aufgenommen.
Der Schöpfer der kammersinfonischen Instrumentierung des Quartetts, Rudolf Barschai, war aus gesundheitlichen Gründen verhindert. Der Preis des Festivals wird ihm noch diesen Herbst in seiner Wahlheimat Basel überreicht werden. Das Preisgeld hat er für die Festtage gespendet. Statt seiner dirigierte Michael Jurowski die Dresdner Staatskapelle, die auf eindringliche Weise die zarten und innigen Aspekte dieser Musik zu erschließen wusste.
Im sehr informativen, umfangreichen Programmheft geht Kurt Sanderling auf die durch den Komponisten selbst verursachte Gefahr ein, die Schönheiten dieser Musik zu verbergen: »Ja, er hat sich seiner Lyrik geschämt, und deshalb hat er alles in seinen persönlichen Interpretationen unterdrückt, was diese Lyrik verstärkt hat.« Das Dresdner Strauss- und Wagner-Orchester, von dem Schostakowitsch einmal verblüfft bemerkt haben soll: »Ja, spielen die denn alle auf Stradivaris?«, hat das Werk bravourös gegen seinen Schöpfer in Schutz genommen. Sanderling bezeichnet die zeitgenössische, mit der Zustimmung des Komponisten etablierte Aufführungspraxis als »im Grunde genommen: ohne das richtige Gefühl«. Damit ist zugleich die Notwendigkeit und Bedeutung der Festtage für die Zukunft umrissen.
Nachdem am Freitagabend der letzte Ton des 8. Quartetts verhallt war, beherrschte sekundenlange Stille den Raum. Ein Ring hatte sich geschlossen: Das Werk war nach fünfzig Jahren an seiner Ausgangsstätte angekommen, angekommen im Rahmen eines Musikfestes, das alles andere als arriviert ist. Der Bürgermeister von Gohrisch verband die Verabschiedung mit einer Einladung zu den nächsten Internationalen Schostakowitsch Tagen vom 16. bis 18. September 2011. Hoffentlich wird auch dann das Wetter auf diesem bevorzugten Fleckchen Erde wieder so fabelhaft sein wie diesmal.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!