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Konservative Dämmerung

Sarrazin-Debatte

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Angela Merkel hat Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab« nicht gelesen. Das sei empörend, echauffierte sich daraufhin FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in seinem Blatt. Schirrmacher klärt uns auf, dass auch andere Politiker offen zugeben, das Buch nicht gelesen zu haben und folgert daraus eine Krise der politischen Kommunikation. Schlimmer noch: In Unkenntnis des Inhalts habe die politische Klasse die Entlassung Sarrazins betrieben und damit das Maximum an Bestrafung bewirkt, das die bürgerliche Welt kenne – die Arbeitslosigkeit. In der bürgerlichen Welt, in der sich Schirrmacher und Sarrazin bewegen, ist das allerdings keinesfalls die höchste Form der Bestrafung. Die bestünde in der Ausgrenzung aus dem Diskurs, in der medialen Nichtbeachtung. Genau das Gegenteil aber davon ist mit Sarrazin geschehen – er diskutiert seine Thesen in Talkshows, seine Lesungen sind gut besucht, sein Buch hat sich bislang rund 650 000 Mal verkauft.

Muss man als Politiker ein Buch lesen, um in der Debatte, die mit der Veröffentlichung dieses Buches entstanden ist, Kompetenz nachweisen zu können? Ja und Nein. Niemand aus der politischen Klasse sah sich genötigt, sich Dieter Bohlens Autobiografie zu Gemüte zu führen. Und das aus gutem Grund: Für die politische Debatte war der Bestseller (verkaufte Auflage: mehr als 800 000 Exemplare) irrelevant, obwohl wochenlang in Internetforen, an den Stammtischen und auf Schulhöfen über Bohlens Buch diskutiert wurde.

Doch Schirrmacher spricht mit seiner Kritik an Merkel etwas Wesentliches an: Der Umgang der Bundesregierung mit Sarrazin entspringt einem kalten politischen Machtkalkül und demonstriert die wachsende Ferne des konservativen Establishment zum eigenen Wahlvolk. Das ist der Resonanzboden für Demagogen vom Schlage Thilo Sarrazins.

Dessen Thesen, heißt es allenthalben, seien sicherlich provokant, seine Schlussfolgerungen abzulehnen, aber die Fakten, die er nenne, seien richtig. Beim Lesen seines Buches drängt sich mir ein anderer Gedanke auf: Abgesehen von den tendenziös wiedergegebenen Statistiken, artikuliert Sarrazin die Angst der Mittelschicht vor den derzeitigen gesellschaftlichen Veränderungen. Die Probleme mit Migration, die für Sarrazin den Argumentationshintergrund liefern (Ghettoisierung, Kriminalität, Bildungsverweigerung), sind allesamt seit langer Zeit bekannt, nur haben sie die Mehrheitsgesellschaft nicht interessiert, solange Murat und Aische unter ihresgleichen blieben. Einwanderer drängen heute aber in doppelter Hinsicht ins Bewusstsein großer Teile der Mittelschicht: Als soziale Aufsteiger, die für die von Abstiegsangst Ergriffenen zu Konkurrenten werden, und als soziale Bedrohung von unten.

Je weniger sich der Staat um die öffentlichen Daseinsfürsorge (Schulen, Sicherheit) kümmert, desto stärker wird dieses Gefühl. Die, die finanziell und geistig mobil sind, können dem Kontakt mit den Einwanderermilieus noch entfliehen, indem sie in andere Stadtteile ziehen, ihre Kinder auf anderen Schulen anmelden oder sich in die Bildungsbürgeroase in den eigenen vier Wänden zurückziehen. Die anderen aber spüren steigende Verunsicherung. Es wäre die ureigenste Aufgabe des politischen Konservativismus, darauf eine demokratische Antwort zu suchen.

Foto: dpa

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