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Bodenlos am See
MARTIN WALSER lobt die Heimat. Eine Gemütspflege
Der Wunsch dehnt sich buchlang aus, er streckt sich wie ein Körper, der eine Enge verlassen, aber nicht etwa aus der Haut fahren will. Der Wunsch heißt: »Wie schön, wenn man sich allem anpassen könnte … Nichts Bestimmtes sein.« Später hat der Wunsch die Worte: »Ich würde mich am liebsten nie wieder auf etwas konzentrieren.«
Das nennt Martin Walser »Todlosigkeit«, so, wie Imre Kertész von Schicksallosigkeit spricht, in seinem »Roman eines Schicksallosen«, freilich in ganz anderem, furchtbarem Lager-Zusammenhang: durchkommen, indem man auf nichts Eigenem besteht.
Um Himmelswillen nicht vergleichbar diese Bücher, da geht es ums Überleben, hier, bei Walser, wird nur übers Leben nachgedacht. Leicht, atemruhig, windbefächelt, schön besonnt und mild beschattet. Und trotzdem auch hier: dieser Wunsch nach Schicksallosigkeit, der einen mitten im wohlgefälligsten Frieden überkommen kann. Aber einen so selten überkommen darf – wenn man es nicht lassen kann, hingezogen von arbeitsamer Existenz, täglich aus dem Haus zu gehen. Walser wiederholt dies Sehnen neu und neu: »nichts Bestimmtes« zu sein. Sich zu wehren gegen »Verfestigung, Verbarrikadierung, Persönlichkeitsaufrüstung, Ichauszeichnung … statt sich zu entgrenzen, definiert man sich dauernd«.
Das ist der Fluch des Bemerktwerdenmüssens, der Konkurriernot. Walser hat sein kleines Buch dagegen geschrieben. Es erschien schon einmal vor Jahren, liegt nun neu vor. In der weißen Feinheit der insel taschenbücher, die trotzdem etwas Robustes an sich haben; sie strahlen die Ermutigung aus, etwas Schönes ganz praktisch zu nehmen. Wie Walser die Heimat und das meditative, auch lyrische Lob darauf. »Es ist immer etwas schön. Das muss man sagen. Weil es verschwindet.«
Die Heimat, die Walser lobt, ist das Bodenseeland. Also reichlich Wasser und Luft, die Nähe des Weiten, Frühling-sommerherbstwinter übervoll. Versenkungsreichtum; das Allzufeste der sonstigen Überlegungen: getauscht gegen das Bodenlose eines träumerischen Übermuts. Es reicht dem Dichter die Beobachtung, dass in warmen Monaten das Haus von Insekten erfüllt ist, und schon wird ihm auf lässige Weise lebensklug zumute. Dem Leser auch. So hat er die Umzingelung durch Insekten, vielleicht gar Mücken, noch nie gesehen: »Man hat das Gefühl, nur geduldet zu sein, schon kommt man sich gerechtfertigter vor.«
Der Autor schwimmt im See, und er schwimmt in Lust am Unangestrengten; Schwäne sind Schwäne, aber auch »andere Gedanken«, eben Gedanken im Wasser. Walser taucht in den See, wie er in die nähere Geschichte taucht, bis tief ins Mittelalter, also ins ewig Akute (»nicht erbracht hat unsere Geschichte ein leichtes, schmerzloses, selbstverständliches, herrschaftsfreies Verhältnis des Allgemeinen zum Einzelnen«). Er stellt uns Provinzgrößen vor, Pater Anton Widenmann von 1633 oder den mönchischen Schriftsteller Heinrich Seuse: »Er hat gewissermaßen gesungen vor Schmerz. Er hat sich graziös gefügt. Er hat das schlimme Zugefügte durch Sichfügen und Zustimmung zu seiner eigenen Sache gemacht.« Was Walser hier schreibt, führt geradewegs zu dem, was ihn stets so sehr mit dem dichtenden Namensvetter Robert Walser verbindet: sich so klein machen, dass das Große und Ganze keine Angriffsflächen hat. Auch dies: eine Art der Emanzipation, vielleicht die unerbittlichste.
So geschieht es einem fortwährend in diesem Skizzenbuch aus anmutiger Gegend: Natur hat dem Autor Besänftigung eingeschenkt, nun ist er trunken, und Rausch überträgt sich, wenn er vom Leser eingenommen wird. Empfindungslese wie Weinlese. Dazu Illustrationen von André Ficus. Aquarelle von betörendem Flirren und Sirren. Regen tropft wie Licht. Dunst und Schnee ziehen den Himmel aufs Niveau unseres melancholischen Gemüts herab, und er darf sich gehoben fühlen. Wie das Gemüt des Lesers auch, spaziert es aufgeräumt durch dieses wundervolle Notizbuch vom Leicht-Sinn der Anschauung.
Martin Walser: Heimatlob. Ein Bodensee-Buch. Mit Aquarellen von André Ficus. insel taschenbuch. 95 S., brosch., 6 €.
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