Neustart erforderlich

  • Halina Wawzyniak, Sebastian Koch und Katja Jösting
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Partei DIE LINKE will im Herbst 2011 ein Grundsatzprogramm beschließen. Über den Entwurf wird derzeit diskutiert, am 7. November dieses Jahres soll es einen Programmkonvent in Hannover geben. ND begleitet die Debatte mit einer Artikelserie. Heute: Die Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Parteivorsitzende der LINKEN Halina Wawzyniak und ihre Mitarbeiter Sebastian Koch und Katja Jösting kritisieren, dass der Programmentwurf vom Fortbestand der Industriegesellschaft als Leitbild ausgehe und die Veränderungen durch die »digitale Gesellschaft« weitgehend ignoriere.

Die Welt hat sich verändert. Was als allgemeine Weisheit daherzukommen scheint, hat den Programmentwurf der LINKEN leider nicht ganz erreicht. Denn der erste Entwurf des Programms geht vom Fortbestand der Industriegesellschaft als Leitbild aus – Veränderungen durch die digitale Gesellschaft gibt es in ihm nicht. Die Fokussierung auf die Industriegesellschaft wird besonders deutlich im Abschnitt III »Demokratischer Sozialismus im 21. Jahrhundert«. Die hier benannten vier Schwerpunkte würden kaum für einen Demokratischen Sozialismus des 20. Jahrhunderts ausreichen, für den des 21. Jahrhunderts reichen sie erst recht nicht. Denn es fehlt komplett die Auseinandersetzung mit einem der wichtigsten Impulse gesellschaftlicher Transformationsprozesse dieses Jahrhunderts: die gesellschaftlichen Veränderungen und Herausforderungen, die mit der Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche verbunden sind. In keinem der vier Punkte wird auch nur andeutungsweise auf die veränderten bzw. sich absehbar verändernden Arbeits- und Lebensweisen eingegangen.

Die Herausforderungen an eine Gesellschaft, die im digitalen Zeitalter angekommen ist und in der es mehr und mehr um Erlebnisproduktion denn materielle Produktion geht, werden im vorliegenden Programmentwurf lediglich unter dem Punkt IV »Reformprojekte« gestreift. In wenigen Sätzen werden neue Medien als produktiv gekennzeichnet und der Bedarf einer demokratischen Kontrolle bei gleichzeitiger Vielfalt und Freiheit postuliert. Im Kern lassen sich die wenigen Aussagen darauf reduzieren, dass DIE LINKE jedem Menschen den Zugang zum Internet und seinen Inhalten ermöglichen will. Das ist richtig und wichtig, aber nicht einmal ein Stück des Kuchens, dessen Bäckerei wir doch eigentlich wollen. Wer wie die Sozialistische Linke in ihrer Stellungnahme meint, dass »der Programmentwurf […] Antworten auf die wichtigsten Entwicklungen unserer Zeit gibt«, der liegt mindestens an der Stelle falsch, wo es um Antworten auf die Veränderungen durch die digitale Gesellschaft geht.

DIE LINKE muss Antworten auf die Veränderung der Arbeitswelt, der Wirtschaftsordnung, der Medienlandschaft und -nutzung sowie die Herausforderungen für die sozialen Sicherungssysteme, die sich durch die Digitalisierung der Gesellschaft ergeben, finden. Das Internet ist nicht mehr nur ein Hobby von wenigen technikversierten Experten, sondern ein konstituierender Bestandteil unserer Gesellschaft. Wer diese Entwicklung ignoriert und sich Antworten verweigert, wird bald gesellschaftspolitisch isoliert sein.

Zu den Fakten: Im Jahr 2010 sind 72 Prozent der über 14-jährigen Deutschen online, den größten Zuwachs gibt es bei den 60- bis 69-Jährigen. Für die 14- bis 49-Jährigen ist der Internetzugang quasi eine Selbstverständlichkeit, deren Anteil bewegt sich zwischen 97 und 84,5 Prozent. Außer Berlin belegen in der Verteilung der Bundesländer die ostdeutschen Bundesländer die letzten Plätze. Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen Einkommen und Internetnutzung. 92 Prozent aller Menschen mit einem monatlichen Haushaltseinkommen über 3000 Euro nutzen regelmäßig das Internet, aber nur knapp über 50 Prozent der Menschen mit einem Haushaltseinkommen mit weniger als 1000 Euro. Hier besteht ein genuiner Anknüpfungspunkt für eine linke Politik, die stets die sozial Benachteiligten im Blick haben muss. Der Zugang zu Wissen und Information und die aktive Teilhabe an der Gesellschaft werden zunehmend über das Internet realisiert. Da die Teilhabe an der Gesellschaft nicht vom Geldbeutel der Menschen abhängig sein darf, müssen wir mindestens für einen kostenfreien Internetzugang in öffentlichen Räumen eintreten. Dazu gehören insbesondere Schulen und Universitäten, Bibliotheken und Rathäuser. Eine Debatte über den Zugang zum Internet und dessen Nutzung wird aber in der Partei und daraus abgeleitet im Programmentwurf nicht ernsthaft geführt. Wenn im Programmentwurf über die Grundversorgung mit lebensnotwendigen Leistungen gesprochen wird, muss auch ein gesicherter Zugang zu den Informations-, Kommunikations-, und Teilhabemöglichkeiten des Internets als Ziel definiert werden, ebenso die Bewahrung des freiheitlichen Charakters des Internets. Die LINKE muss die Bedeutung des Internet zur Kenntnis nehmen und sich für einen gleichberechtigten Zugang aller Menschen, ob arm oder reich, ob in der Stadt oder auf dem Land, einsetzen.

Doch damit ist es nicht getan. Sowohl in der Renten- als auch in der Gesundheits- und Arbeitslosenversicherung wird im Programmentwurf auf die paritätische Finanzierung durch Unternehmen und Arbeitnehmer abgestellt. Angesichts gesellschaftlicher Veränderungen in der Arbeitswelt müsste DIE LINKE aber darüber debattieren, ob ein steuerfinanziertes Solidarsystem diesen Veränderungen nicht gerechter würde. Beim Festhalten an der paritätischen Finanzierung der Solidarsysteme in Zeiten zunehmender Selbständigkeit und einem wachsenden Teil von Freelancern und Solo-Selbstständigen ist es gerade dieser Personenkreis, der mit großen finanziellen Belastungen und finanziellen Unsicherheiten durch schwankende und unregelmäßige Einkommen konfrontiert ist. Bei Beibehaltung der Parität im bisherigen Sinne muss dieser Personenkreis den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil für die Solidarsysteme zahlen – häufig ein fast unmögliches Unterfangen. Ein steuerfinanziertes Solidarsystem muss auch kein Abschied von der paritätischen Finanzierung sein, denn über eine gerechte Unternehmensbesteuerung könnte der Anteil der Arbeitgeber an der Finanzierung der Solidarsysteme sichergestellt werden. Eine steuerfinanzierte Sozialpolitik birgt sicher Risiken, das ist aber kein Grund, sie nicht zu debattieren, denn in der Debatte lassen sich eben diese Risiken genauer beleuchten.

Der Programmentwurf spricht ganz explizit von einer drohenden De-Industrialisierung und weiter steigender Arbeitslosigkeit. Dabei entsteht zumindest der Eindruck, dass DIE LINKE für Industrialisierung eintreten müsse und die Industriegesellschaft als Leitbild der Zukunft betrachtet und bewahren will. Das halten wir für falsch. »Der Übergang von der Industriegesellschaft zu einer post-industriellen Gesellschaft ist in vollem Gange.«, so der Sachverständige der LINKEN, Professor Dr. Wolfgang Coy, in einer Anhörung der Enquete-Kommission »Internet und Digitale Gesellschaft« im Bundestag. Vor diesem Hintergrund erscheint uns das Reformprojekt »De-Industrialisierung zu verhindern und Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe zu sichern« ein wenig wie Maschinenstürmerei. Es wird unbestreitbar immer einen gewissen Anteil Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe geben, aber es ist nicht sinnvoll, mit aller Macht dem technischen Fortschritt trotzen zu wollen und Automatisierungspotentiale gänzlich abzulehnen. Vielmehr muss es darum gehen, für Menschen, die diese Tätigkeiten bislang ausgeübt haben, alternative Möglichkeiten gesellschaftlich sinnvoller und selbstbestimmter Beschäftigungen zu entwickeln. Und wenn es im Programmentwurf in Abschnitt II heißt, dass die »Krisen der kapitalistischen Marktwirtschaft […] Massenarbeitslosigkeit und Einkommensverluste zur Folge« haben, ist dies nicht falsch. Es wird aber negiert, dass mit der digitalen Revolution und damit der weiteren Technisierung von Abläufen jede Gesellschaftsform damit konfrontiert wäre, dass bestimmte Arbeitsplätze wegfallen. Dass der Kapitalismus darauf keine Antwort findet, ist ein Problem – dass der Programmentwurf dies bisher ebenso wenig versucht, ist enttäuschend.

Es wird zu Recht beklagt, dass »informelle und prekäre, unterbezahlte und sozial ungesicherte Arbeit zur Normalität« wird. Doch wo ist die Lösung? Die Lösung, die zum Beispiel berücksichtigt, dass durch die Verbreitung des mobilen Internet und die Etablierung des mobilen Büros die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zunehmend verschwinden. Es gibt sie nicht, weil es das Problem nicht gibt. Zumindest im Programmentwurf, denn dieser geht uneingeschränkt davon aus, dass die Grundlage der Arbeitswelt eine abhängige Beschäftigung ist und bleibt. Er blendet aus, dass es einen zunehmenden Anteil von selbständigen Kreativen gibt, auf die das Leitbild der abhängigen Beschäftigung nicht passt. Eine LINKE muss sich Gedanken machen, was sie im Hinblick auf Arbeitsplatzsicherheit, Arbeitszeit und Bezahlung für diesen Personenkreis fordert, will sie weiter gesellschaftlich anschlussfähig bleiben.

Der Programmentwurf verweist darauf, dass nicht alle den Zugang zu modernen Medien haben – ohne allerdings einen Vorschlag zu unterbreiten, wie dies verändert werden kann. Stattdessen geht er schnell zu den »alten Massenmedien« über. Tatsächlich wäre interessant zu betrachten, wie sich im Rahmen der digitalen Gesellschaft deren Einflussmöglichkeiten verändern. Die Kommunikation in Form von E-Mail, sozialen Netzwerken, Blogs oder Chats nimmt zu. Hier findet mehr und mehr Meinungsbildung statt. Ohne dass die sogenannten Massenmedien Einfluss verloren haben? Die Möglichkeiten des Lernens und Wissens, der Themensetzung und der öffentlichen Meinungsbildung über das Internet werden im bisherigen Entwurf ausgeklammert. Dabei werden die klassischen Massenmedien insbesondere im Printbereich unserer Einschätzung nach zunehmend an Einfluss verlieren. Sie werden nicht mehr hegemonial, wie im Programmentwurf formuliert, »bestimmen, was wir lernen und wissen, worüber wir reden und was wir meinen sollten«. Sicherlich bestimmen sie mit, aber sie bestimmen nicht mehr allein darüber.

Beispiele sind hier der Widerstand gegen die Vorratsdatenspeicherung und die überwältigende Teilnahme an der Online-Petition gegen das Netzsperrengesetz. Die LINKE muss sich den neuen Möglichkeiten des Netzes öffnen, die gesellschaftlichen Potentiale herausstellen und verteidigen. Schließlich kommt sie damit an die Frage, wie offen das Netz gestaltet sein soll und welche nationalen und internationalen Regulierungen zum Erhalt des libertären Charakters eines offenen weltumspannenden Informations- und Kommunikationsnetzes nötig sind. Das Eintreten gegen Internetzensur hat hier eine Haltelinie markiert, ohne allerdings programmatisch abgesichert zu sein. Dennoch war, ist und bleibt diese Position richtig.

Soweit im Programmentwurf von Demokratie und ihrer Verbesserung die Rede ist, wird auf die klassischen, bekannten Instrumente verwiesen. Bei der Forderung nach Volksentscheiden und Runden Tischen sowie Wirtschafts- und Sozialräten wird allein auf physische Anwesenheit gesetzt, die die parlamentarische Demokratie ergänzt. DIE LINKE muss aber die Chancen der digitalisierten Gesellschaft für neue Formen politischer Beteiligung und Entscheidungsfindung herausstellen und fördern. Leider schweigt der Programmentwurf in weiten Teilen zu den Möglichkeiten demokratischer Öffentlichkeit und Kontrolle mit Hilfe des Internet. Auch zu neuen Konzepten wie OpenData, also der allgemeinen und freien Zugänglichkeit zu nichttextlichem Material, wie Karten, Formeln und Berechnungen, findet sich nichts im Entwurf.

Wenn es um eine demokratische Öffentlichkeit geht, wenn es darum geht, die Vertreter/innen-Demokratie zu erweitern, dann dürfen die neuen Möglichkeiten für Information und Kommunikation nicht außen vor gelassen werden. DIE LINKE könnte beispielsweise fordern, dass vor der Beschlussfassung von Gesetzen zwingend auch eine Debatte außerhalb der Parlamente geführt werden muss. Vor der Beschlussfassung sollten Bürgerinnen und Bürger auch mittels neuer Medien ihre Positionen und Vorschläge in den Gesetzgebungsprozess und in Verwaltungshandeln einbringen können. Wir sind zuversichtlich, dass DIE LINKE dies in absehbarer Zeit für den Programmentwurf auf der eigenen Internetseite allen Interessierten ermöglicht. Und dann beginnt hoffentlich auch eine breite Debatte über die Erarbeitung netzpolitischer Positionen der LINKEN für einen demokratischen Sozialismus im 21. Jahrhundert, der auch vor dem Internet nicht halt macht.

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