Der strahlende Müllberg wächst und wächst
Aktionstage sollen auf die ungelöste Entsorgungsfrage und die Risiken der Transporte hinweisen
Wenn Sie am Wochenende einen Castortransport durch Berlin rollen sehen, bleiben Sie gelassen und blockieren Sie nicht gleich die Straße. Mit ziemlicher Sicherheit handelt es sich um eine Attrappe. Der allerdings täuschend echt aussehende Behälter wurde in Gorleben mit ebenfalls unechten Atommüllfässern beladen. Sie sollen am Montagnachmittag im Regierungsviertel abgekippt werden, während der Umweltausschuss des Bundestages über die von der Regierung beschlossene Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke diskutiert.
Rund 100 Aktionen sind geplant
Die Aktion mit dem falschen Castor ist eine von bundesweit rund hundert, mit denen sich Atomkraftgegner an diesem Wochenende für die großen Protestaktionen Anfang November im Wendland warmlaufen wollen. Gleichzeitig soll der von Umweltverbänden und Bürgerinitiativen ausgerufene »Castor-Strecken-Aktionstag« entlang den Transportrouten für Atommüll darauf hinweisen, dass in den nächsten Monaten und Jahren radioaktive Abfälle kreuz und quer durchs Land gekarrt werden. Ein erster Atommüllzug mit elf Castorbehältern startet in zwei Wochen in Frankreich, Ziel der Fuhre ist das Zwischenlager Gorleben (Niedersachsen). In die nahezu baugleiche Halle in Ahaus (Nordrhein-Westfalen) sollen in den kommenden Monaten Transporte mit hoch radioaktivem Müll aus dem 180 Kilometer entfernten Forschungszentrum Jülich rollen. Ein weiterer Castortransport fährt kurz vor Weihnachten ins Zwischenlager Lubmin (Vorpommern).
Das ist nur der Anfang – hunderte weitere Transporte drohen in den nächsten Jahren. »Castor für Castor wächst der strahlende Müllberg«, sagt Berthold Frieß, Landesgeschäftsführer des Bundes Umweltverbands BUND in Baden-Württemberg. Mit den Aktionen am Wochenende solle der Regierung klargemacht werden, »dass die Bevölkerung genug hat von der Risikotechnologie Atomkraft«. Durch die geplante Laufzeitverlängerung kämen zusätzlich 5000 Tonnen hoch radioaktiven Atommüll oder mehr als 500 Castorbehälter dazu, rechnet Frieß vor.
»Der Protest geht in die Fläche«, erklärt Peter Dickel von der Arbeitsgemeinschaft Schacht Konrad das Konzept der Aktionstage. An den dezentralen Aktionen am Samstag würden sich viele Menschen beteiligen, die aus vielerlei Gründen nicht zu zentralen Großveranstaltungen fahren: »Jeder kann im unmittelbaren Wohnumfeld mit seinen eigenen Mitteln und Formen zeigen, dass er Atomenergie ablehnt.« Alleine im Südwesten sind auf Bahnhöfen und an Gleisanlagen rund 20 Mahnwachen, Kundgebungen und Demonstrationen angekündigt. Das Aktionsbündnis Münsterland will den Ahauser Bahnhof »putzen«, im hessischen Biblis wird der Bahnhof umzingelt, in Hameln gibt es ein anti-atomares »Rattenscheuchen«, in Jülich einen Anti-Atom-Spaziergang und in Greifswald eine Kundgebung nahe der Castor-Transportstrecke. Lüchow-Dannenberger Atomkraftgegner fahren per Bahn ab dem Verladebahnhof Dannenberg-Ost nach Leitstade und werden dort im Wald die Bahntrasse inspizieren.
Die fünfte Jahreszeit im Wendland
Unterdessen hat im Wendland die »grüne« Jahreszeit begonnen. Eine gewaltige Polizei-Armada marschiert auf; sie soll in zwei Wochen den Castortransport ins Zwischenlager Gorleben schützen. An der Verladestation in Dannenberg haben Polizisten Absperrgitter aufgestellt und das Areal mit drei Lagen scharfkantigem Draht eingezäunt. Auch im Dannenberger Stadtgebiet und am Lüneburger Bahnhof wurden schon Gleisanlagen mit Draht gesichert. In Lüneburg gab es bereits einen Zwischenfall. Ein Bahnmitarbeiter sei durch umherfliegende Stacheldrahtteile leicht verletzt worden, bestätigte ein Sprecher der Bundespolizei. Ein vorbei fahrender Zug hatte eine Drahtrolle hochgewirbelt. Die betroffene Bahnstrecke wurde vorübergehend gesperrt.
Im Dannenberger Hauptquartier der Castor-Polizei, einer ehemaligen Polizeikaserne bei Neu Tramm sowie im Gorlebener Erkundungsbergwerk entstehen Container-Unterkünfte für die Beamten. Insgesamt will Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) rund 17 000 Polizisten in den Castoreinsatz schicken. Der bevorstehende Transport ist der zwölfte ins Zwischenlager Gorleben. Die Zahl der dort abgestellten Behälter erhöht sich damit auf 102. Insgesamt bietet die oberirdische Betonhalle Platz für 420 Behälter für hoch radioaktive Abfälle. Die aus einem Stück gefertigten, sechs Meter langen Stahlzylinder wiegen befüllt etwa 120 Tonnen. Bei dem Atommüll, der nun nach Gorleben geschafft werden soll, handelt es sich um in Glas eingeschmolzene Rückstände aus der französischen Wiederaufarbeitungsanlage La Hague. Dort ließen die deutschen Stromkonzerne die verbrauchten Brennstäbe aus ihren Kernkraftwerken früher recyceln. Bundesregierung und Stromwirtschaft begründen die Notwendigkeit der Transporte nach Gorleben damit, dass Deutschland völkerrechtlich verbindlich zur Rücknahme des Atommülls verpflichtet sei.
Die Castoren sollen bis zu 40 Jahre im Zwischenlager bleiben. Danach kommt der Müll in ein Endlager, das es bislang aber nicht gibt. Seit dem 1. Oktober lässt die Bundesregierung nach zehnjähriger Unterbrechung den Salzstock Gorleben auf seine Eignung hin untersuchen. Aus Sicht der Atomkraftgegner im Wendland erhöht jeder weitere Castortransport nach Gorleben das Risiko, dass der Salzstock mit Atommüll befüllt wird.
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