Weiter Streit um Tarifeinheit
Beamtenbund stellt neue Expertise vor: Eckpunkte von DGB und BDA nicht verfassungskonform
Der gemeinsame Vorstoß vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hatte für Wirbel in den Gewerkschaften gesorgt. Nachdem das Bundesarbeitsgericht im Sommer den Grundsatz der Tarifeinheit gekippt hatte, forderten sie eine gesetzliche Festschreibung der Tarifeinheit. Die Berufsgewerkschaften kritisierten den Vorstoß scharf – sie sehen eine Bevorzugung der DGB-Gewerkschaften und fürchten um ihre Existenz.
Das Bundesarbeitsministerium von Ursula von der Leyen (CDU) bestätigte auf ND-Anfrage, dass an Vorschlägen zur gesetzlichen Regelung nun gearbeitet und konkrete Ergebnisse noch in diesem Jahr vorgelegt werden.
Seit den 50er Jahren galt das Prinzip »Ein Betrieb – ein Tarifvertrag«, dementsprechend war die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte. Im Juni hatte das Bundesarbeitsgericht angekündigt, seine Spruchpraxis fortan zu ändern. Seitdem ist es möglich, dass mehrere Tarifverträge in einem Betrieb nebeneinander existieren können. Die Berufsgewerkschaften riefen »Hurra!« und sahen sich gestärkt. DGB und BDA aber setzten sich zusammen und beschlossen ein Papier, in dem sie die gesetzliche Festlegung der Tarifeinheit fordern. Sie befürchten Tarifchaos und andauernde Arbeitskämpfe, wenn jede Gewerkschaft für sich verhandelt.
Streitbare Eckpunkte
Nach diesem gemeinsamen Eckpunktepapier von DGB und BDA soll künftig diejenige Gewerkschaft den Tarifvertrag abschließen können, die über die meisten Mitglieder im Betrieb verfügt. Für kleinere Gewerkschaften soll eine Friedenspflicht bestehen. Gerade dieser Punkt bringt die Kritiker aus der Ärztegewerkschaft Marburger Bund (MB), die Lokführer der GDL und andere Berufsgewerkschaften auf die Barrikaden. Sie befürchten die Beschneidung der Koalitionsfreiheit und des Streikrechts – beides Verfassungsgrundsätze. Aber auch innerhalb der DGB-Gewerkschaften wurde Kritik laut: Während der ver.di-Vorstand das Papier unterstützt, befürchten ganze Fachgruppen, dass sich ver.di die Handlungsmacht rauben könnte. Der konkurrierende Journalistenverband DJV hat beispielsweise in vielen Redaktionen mehr Mitglieder als die Journalistenunion dju, die Teil von ver.di ist.
Auf einem Symposium des Beamtenbundes und seiner Tarifunion (dbb tarifunion), einem Gewerkschaftsdachverband mit rund 1,2 Millionen Mitgliedern, stellt der Tübinger Juraprofessor Hermann Reichold heute seine Expertise zum Eckpunktepapier von DGB und BDA vor. Er untersuchte die Auswirkungen einer gesetzlichen Regelung für den öffentlichen Dienst. Sein Fazit: unklar, gefährlich und verfassungswidrig.
Was ist ein Betrieb?
Zum Beispiel der Tarifbereich der Länder (TdL) mit rund 700 000 Beschäftigten: Es sei, so Reichold kaum zu ermitteln, welche Gewerkschaft die mitgliederstärkste ist. Besonders bei dbb tarifunion und ver.di gebe es zwar »regionale und berufsspezifische Hochburgen«, der MB habe dagegen einen sehr hohen Organisationsgrad.
Zweitens sei der Begriff des Betriebes im öffentlichen Dienst kaum eingrenzbar. Heißt »Betrieb« beispielsweise ein Uniklinikum oder alle Unikliniken des jeweiligen Bundeslandes? Einige Kliniken sind Hochburgen einzelner Gewerkschaften vor Ort. Was aber, wenn der gesamte TdL-Bereich als »Betrieb« gilt und dort eine andere Gewerkschaft am mitgliederstärksten ist?
Trotz des praktizierten Prinzips der Tarifeinheit gebe es drittens seit Jahren Tarifgemeinschaften unterschiedlicher Konstellation, »um der starken Arbeitgeberseite in Bund, Ländern und Gemeinden geschlossen gegenüberzutreten«, schreibt Reichold weiter, also eine freiwillig vereinbarte Tarifpluralität – ohne Chaos und Dauerstreiks. Letztlich könne die gesetzliche Tarifeinheit die Gewerkschaftslandschaft schwächen. Wie soll, so Reichold, eine im Betrieb unterlegene Gewerkschaft ihre Mitglieder halten können, wenn sie keine Tarifkämpfe führen darf? Zu befürchten sei zudem, dass die größere Gewerkschaft keine Notwendigkeit mehr sieht, mit den kleineren ins Gespräch zu kommen. Das gleiche gilt für die Arbeitgeberseite, für die es wenig Grund gibt, sich mit einer qua Gesetz zum Stillhalten verdonnerten Gewerkschaft an einen Tisch zu setzen.
Voraussichtlich Mitte Dezember will das Arbeitsministerium Ergebnisse vorlegen. Der Streit um die Zukunft der Tariflandschaft dürfte damit noch lange nicht vorbei sein.
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