- Politik
- Fokus: Anti-Castor-Proteste
1:0 für die Anti-AKW-Bewegung
Atomkraftgegner sehen Proteste gegen Castor als Erfolg / Weitere Aktionen sind geplant
Nach 92 Stunden Fahrt hat der Atommüllkonvoi gestern Morgen das Zwischenlager Gorleben erreicht. Zehntausende hatten demonstriert, Schienen und Straßen besetzt – und so den Transport immer wieder aufgehalten.
»Das war keine Niederlage«
20 000 Polizisten waren aufgeboten gewesen, um die Atommülltonnen auf ihrer letzten Etappe nach Gorleben zu bewachen. Bis zu 50 Millionen Euro könnte das Spektakel das Land Niedersachsen nach vorläufigen Schätzungen gekostet haben. Klar, dass die Atomkraftgegner ihre Protestaktionen gestern als großen Erfolg feierten. »Wir haben gezeigt, dass mit uns gerechnet werden muss«, sagte die Vorsitzende der Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, Kerstin Rudek, bei der traditionellen Abschluss-Pressekonferenz der Widerstandsgruppen in den »Trebeler Bauernstuben«. Die Pläne von Bundesregierung und Energiewirtschaft, hochradioaktiven Atommüll in den Salzstock Gorleben zu bringen, sieht die Bürgerinitiative angesichts der Massenproteste als gescheitert. Der Endlagerstandort im Kreis Lüchow-Dannenberg müsse endgültig aufgegeben werden.
Bei früheren Castortransporten fand es Jochen Stay von der Anti-Atom-Initiative »Ausgestrahlt« immer frustrierend, wenn der Atommüllkonvoi das Zwischenlager in Gorleben erreichte. Dieses Mal habe ihm das nicht so viel ausgemacht, sagte er. »Das war keine Niederlage, die wir erlebt haben, sondern ein großer Erfolg.« »Wir haben die Proteste von Tausenden sichtbar gemacht und haben dies für Hunderttausende getan«, erklärte auch Jens Magerl von der Initiative »Widersetzen«.
Die Gruppe hatte am Wochenende die große Schienenblockade bei Harlingen organisiert, an der sich bis zu 5000 Menschen beteiligten. Die Besetzung dauerte fast 20 Stunden – und war der wesentliche Grund dafür, dass der Castorzug erstmals für eine ganze Nacht auf der Strecke abgestellt wurde. Carsten Niemann von der Bäuerlichen Notgemeinschaft sagte, die Landwirte aus dem Wendland hätten »höchsten Respekt« vor allen Castorgegnern, die bei Minustemperaturen und für viele Stunden Schienen und Straßen blockierten. »Vor diesen Leuten ziehen wir den Hut.« Die Bauern hätten dieses Jahr »nur ein bisschen« zu den Protesten beigetragen, so Niemann mit wendländischem Understatement.
Immerhin haben die Landwirte am Wochenende mit mehr als 600 Treckern demonstriert – so vielen wie nie zuvor. Insgesamt blockierten Traktoren seit Freitag rund 50 Mal Straßen und Kreuzungen.
Der Atomexperte von Greenpeace, Mathias Edler, sagte, die Umweltorganisation sei »stolz darauf, Teil des Widerstandes im Wendland zu sein«. Die Proteste hätten gezeigt, dass die Menschen die Atompolitik der Regierung »satt haben«. »Das war der Anfang vom Ende der Castortransporte ins
Wendland, der Anfang vom Ende des Endlagerstandortes Gorleben und der Anfang vom Ende der Atompolitik.« Der Widerstand werde weitergehen, der politische Druck auf Bundesregierung und Energiekonzerne aufrecht erhalten, kündigten die Initiativen an.
Weitere Großproteste in Planung
Große Aktionen der Anti-Atom-Bewegung soll es in den kommenden Monaten unter anderem gegen die für Januar geplante Wiederinbetriebnahme des Atomkraftwerks Krümmel in Schleswig-Holstein, gegen die baden-württembergischen Atomkraftwerke sowie zum 25. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe im April geben, sagte Jochen Stay.
Kerstin Rudek wies auf die bevorstehenden Castortransporte in die Zwischenlager in Ahaus und Lubmin hin. »Es wäre schön, wenn der Widerstand nicht bis zum nächsten Atommülltransport nach Gorleben wartet«, sagte sie. Wie jetzt im Wendland werde die Bewegung auch bei den geplanten Anti-Castor-Aktionen in Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern bundesweit zusammenstehen.
Tagebuch
Montag, 20.15 Uhr: Mit einem umgebauten Bierlaster blockiert Greenpeace seit über einer Stunde die Kreuzung vor dem Dannenberger Verladebahnhof. Im Innenraum des Fahrzeugs haben sich zwei Umweltschützer in einem Betonblock und zwei Stahlröhren verankert, die vom Unterboden aus auf dem Asphalt fixiert sind. Polizisten haben den Fahrer und den Beifahrer aus dem Führerhaus gezerrt, der Beifahrer wurde dabei verletzt.
Montag, 23.45 Uhr: Am Ortseingang von Gorleben blockieren Landwirte die Castor-Straße. Wie vor zwei Jahren haben sie sich in einer Betonpyramide zusammengeschlossen. Eine zweite Pyramide in der Ortsmitte ist von der Polizei vorzeitig entdeckt und beschlagnahmt worden. Die Beamten ordern bei der Einsatzleitung schweres Gerät. Sie wollen das Hindernis mitsamt den innen angeketteten Bauern von der Straße schieben. Der Versuch scheitert, weil in der Pyramide eine zweite steckt.
Dienstag, 0.20 Uhr: Seit anderthalb Tagen halten Tausende Castorgegner die Zufahrt zum Zwischenlager besetzt. In der Nacht ist die Zahl der Blockierer auf rund 4000 angewachsen. Weil Traktoren Kreuzungen und Straßen versperren, hat die Polizei Mühe, genug Beamte für eine Räumung heranzuführen.
Dienstag, 2.30 Uhr: Die Polizei am Verladekran wirkt ratlos. Seit mehr als sechs Stunden hämmern und fräsen die Beamten an dem Betonblock herum. Zwischenzeitlich versuchen Konfliktmanager, die Greenpeace-Leute zum Aufgeben zu bewegen. Externe Experten messen die Kreuzung aus. Sie sollen herausfinden, ob der Castorkonvoi den Lkw umfahren könnte. Und ob die Aktivisten wegen Nötigung angezeigt werden können. »Wenn der Transport theoretisch vorbei kommt, dann ist es auch keine Nötigung«, erläutert der Polizeisprecher.
Dienstag, 3.00 Uhr: In Gorleben hat die Polizei die doppelte Pyramide mit den darin steckenden Menschen auf eine mobile Plattform gehoben. Nun schiebt sie das komplette Gebilde langsam von der Dorfstraße. In einer Nebenstraße werden die Landwirte von Kollegen befreit. Damit niemand sehen kann, wie das geht, decken sie die Pyramide mit einer Folie ab.
Dienstag, 3.20 Uhr: Am Zwischenlager beginnt die Räumung. Die Polizei geht zunächst behutsam vor. Jeweils zwei Beamte tragen einen Blockierer zur Seite – viele setzen sich kurz darauf wieder auf die Straße. Jochen Stay von der Organisation Ausgestrahlt findet die Taktik »absurd«. Auf die Frage, was die Polizei stattdessen tun solle, sagt er: »Sitzen lassen und dazu setzen.«
Dienstag, 5.00 Uhr: Über der Sitzblockade haben zwei Kletterer von Robin Wood unter großem Beifall ein Seil zwischen einem Strommast und einem Baum gespannt. Daran hängt ein Transparent mit der Aufschrift »Endstation Atom. Sofort alle aussteigen.« Eine Gruppe Beamter macht sich bereit, die Kletterer herunterzuholen.
Dienstag, 5.35 Uhr: Im Greenpeace-Lkw ist der Polizei ein erster Erfolg gelungen. Sie konnte die Arme der Blockierer aus dem Betonblock lösen. Sanitäter versorgen die Aktivisten mit Wasser. Greenpeace und unabhängige Beobachter bescheinigen den Beamten ein besonnenes Vorgehen.
Dienstag, 6.00 Uhr: Die Hälfte der Blockierer am Zwischenlager ist geräumt. Die Beamten arbeiten schneller, teilweise wird ihr Verhalten ruppiger. Nach Angaben von Betroffenen wenden sie schmerzhafte Griffe an. Ähnelte die Sitz- vorher mehr einer Liegeblockade, warten viele Demonstranten nun mit gepacktem Rucksack auf ihre »Träger«.
Dienstag, 8.00 Uhr: Vor anderthalb Stunden sind die beiden Greenpeace-Leute aus ihren Betonröhren geholt worden. Auch den Lkw hat die Polizei von der Kreuzung geschleppt. Der Weg zum Zwischenlager ist frei.
Dienstag, 8.30 Uhr: Die ersten Castor-Laster fahren aus der Verladestation. Der Konvoi nimmt die Nordstrecke nach Gorleben. Reimar Paul
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