Heiliger Georg statt Lenin

Ein Wiedersehen mit Georgiens Hauptstadt: Viel Neues, manches Alte

  • Steffi Chotiwari-Jünger
  • Lesedauer: 4 Min.
»Sieh mal, wie hell es in unserer Stadt ist.« Es ist zwei Uhr nachts und an Tbilissis Magistralen sind Kirchen, Sehenswürdigkeiten und andere Gebäude angestrahlt. Auch auf dem Mtazminda (Heiliger Berg) glitzern Fernsehturm und Riesenrad hell und vielfarbig. Muss das mitten in der Nacht sein? »Nach so vielen Jahren ohne Strom haben wir das doch verdient. Oder?«
»Saakaschwilis Pampers« nennt der Volksmund die neue Brücke (Bildmitte) über die Kura im Zentrum Tbilissis.
»Saakaschwilis Pampers« nennt der Volksmund die neue Brücke (Bildmitte) über die Kura im Zentrum Tbilissis.

Wir sind auf dem Weg vom Flugplatz ins Zentrum der georgischen Hauptstadt. Die Straßen sind erneuert, in regelmäßigen Abständen wachen Sicherheitsleute. Auf dem Freiheitsplatz, auf dem einst ein Lenindenkmal stand, leuchtet in Gold der Heilige Georg, ein Geschenk des Bildhauers Surab Zereteli, der auch Moskau mit manchem umstrittenen Werk geschmückt hat.

In Wake, einem Wohnviertel, das ich seit 35 Jahren kenne, hat sich jedoch kaum etwas verändert. Abgesehen davon, dass die Straßen aufgerissen sind: Nach der Erneuerung der Stromleitungen kommen Telefon- und Internetkabel an die Reihe. Die Häuser sind noch immer in bedauernswertem Zustand. Seit den 70er Jahren, schon damals hätten sie renoviert werden müssen, hat sich offenbar nichts getan. Treppenhäuser blieben jahrelang ohne Fensterscheiben. Dafür sehe ich in den Höfen ab und zu neue Sportanlagen. »Ja, in Wake ist wohl am wenigsten verändert worden, aber sieh mal in anderen Bezirken nach«, rät man mir.

Tatsächlich wird viel gebaut: Ungezählte Wohnhäuser entstehen, die Universität, das Historische Museum, die Oper werden renoviert. Anstelle des abgerissenen Basars sollte ein Hochhaus errichtet werden, daraus wurde aber nichts: Darunter liegt ein mehrstöckiges Tunnelgewölbe.

Das ehemalige Iweria-Hotel, in dem Vertriebene und Flüchtlinge aus Abchasien auf engstem Raum wohnten, beherbergt heute wieder ausländische Geschäftsreisende. Die Flüchtlinge hätten anderswo Unterkünfte erhalten, heißt es.

Für rund eine Milliarde Lari ließ sich auch Präsident Saakaschwili einen Palast errichten. Gerade wurde gemeldet, dass eine neue Verfassung die Stellung des Premierministers stärken und die des Präsidenten schwächen soll. Woraus geschlossen wird, dass Saakaschwili nach dem Ende seiner Amtszeit 2013 ins Amt des Premiers wechseln wird, um an der Macht zu bleiben.

Am Abend bin ich bei einer Freundin eingeladen. Sie ist Ärztin, 40 Jahre alt und verdient 500 Lari im Monat (umgerechnet 205 Euro). Vor wenigen Jahren waren es noch ganze 50 Lari. Nun könne sie sich schon mal etwas kaufen, was über das Essen hinausgeht. Wie sie das macht, ist mir dennoch rätselhaft, denn die Lebensmittelpreise sind nicht wesentlich niedriger als in Deutschland. Zudem ist die Mutter schwer krank und benötigt täglich ein Medikament für 300 Lari. Der Krankenhausaufenthalt ist unentgeltlich, aber Schwestern und Medikamente müssen bezahlt werden. Zum Glück hilft immer irgendwer aus der Familie – oder alle legen zusammen.

Anderntags begebe ich mich zum Bücherkauf ins Zentrum, wo es früher Dutzende Buchläden und -stände gab. Mit Mühe finde ich jetzt einen Hinterhofladen. »Die Mieten an den Prachtstraßen können wir nicht mehr bezahlen«, sagt man mir, »und der Handel an Ständen (Blumen und Zeitungen ausgenommen) ist verboten.« In der ersten Reihe haben sich Banken, Apotheken, internationale Modehäuser und Handelsketten, Souvenirläden und Konditoreien etabliert. Als sich mein Aufenthalt dem Ende nähert, sehe ich auf dem Rustaweli-Prospekt eine Demonstration unter der Losung »Freiheit für den Kleinhandel!«

Zweifellos hat sich vieles zum Besseren gewendet: In vier Wochen ging das Licht nur dreimal aus, Wasser wurde nur noch nachts abgestellt, Busse fahren regelmäßig und sind nicht mehr so übervoll wie früher, auch gibt es aufladbare Zahlkarten. Andererseits scheint es, als seien alle deutschen Autos, die gegen eine Abwrackprämie abgegeben wurden, in Georgien gelandet.

Verlierer sind die Rentner, die um die 90 Lari im Monat beziehen, die vielen Arbeitslosen ohne Sozialversicherung und Arbeitslosengeld, Jugendliche, unter denen Alkohol- und Rauschgiftabhängigkeit zunehmen. Im alten Studentenstädtchen in Wake leben noch immer Flüchtlinge aus Abchasien in Behausungen, die in den 50er Jahren als Notunterkünfte für Studenten gebaut wurden. Im Oktober hieß es außerdem, dass den Flüchtlingen die übliche 28-Lari-Unterstützung gestrichen wird. An einer Wand lese ich »me mschia« (Ich habe Hunger), an anderer Stelle »gvschia ganatleba« (Wir sind hungrig nach Bildung).

Viel Geld wird für Englischunterricht ausgegeben. 1000 Muttersprachler sollen dem georgischen Nachwuchs die Weltsprache beibringen. Ausländische Abschlüsse werden jedoch nicht mehr anerkannt, um den Drang an ausländische Universitäten zu stoppen.

Zwei der vielen Neuerungen gefallen mir: Bewohnern der nordkaukasischen Republiken Russlands ist es jetzt gestattet, sich für 90 Tage ohne Visum in Georgien aufzuhalten. Hoffentlich trägt das zum friedlicheren Zusammenleben der Kaukasusvölker bei.

Und in der Öffentlichen Bibliothek entdecke ich Erstaunliches: Nicht nur, dass man sie sonntags nutzen kann, es gibt dort ein Kinderzimmer, in dem Lesende und Mitarbeiter ihre Sprösslinge abgeben und bis zu drei Stunden kostenlos betreuen lassen können. Wenn es das in Berlin gäbe!

Georgier unter 40 sehen die jetzige Zeit als die beste in ihrem Leben an, die ältere Generation zieht Vergleiche mit den 70er Jahren, die sie in bester Erinnerung hat.

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