Unsicherheit im Diskurs

Wissenschaftler diskutierten über Prekarisierung

  • Jörg Meyer, Berlin
  • Lesedauer: 2 Min.
Am Freitag endete das diesjährige Herbstforum des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Wissenschaftler und Gewerkschafter diskutierten zwei Tage lang unter dem Titel »Prekarität im Lebenszusammenhang«. Einig waren sie sich darin, dass der Begriff Prekarisierung nicht allein im Zusammenhang mit Erwerbsarbeit verwendet werden darf.

»Im Kern umschreibt Prekarität Verunsicherung – in der Regel im Job«, sagte die wissenschaftliche Direktorin des WSI, Heide Pfarr, in ihrer Begrüßungsrede zum diesjährigen WSI-Herbstforum. Ein Ziel sei es, »den Begriff ›Prekarisierung‹ auszuweiten«. Zudem müsse über gewerkschaftliche Perspektiven und Aufgaben gesprochen werden.

Dass das Thema unter Wissenschaftlern nicht unumstritten ist, wurde in den Referaten und Diskussionsbeiträgen deutlich. Bis in Deutschland die Prekarisierungsforschung in Gang kam, habe es gedauert, sagte der Jenaer Soziologieprofessor Klaus Dörre, der sich hierzulande als einer der ersten damit auseinandersetzte. Für Dörre ist Prekarisierung ein »zeitdiagnostischer« Begriff, der weit über die Arbeitswelt hinausgeht und es ermöglicht, »die soziale Frage wieder zu thematisieren«. Dörre grenzte sich in seinen ersten Studien zum Thema vor sechs Jahren auch von herrschenden Theorien ab, die verschiedene Segmente des Arbeitsmarktes als geschlossene Bereiche analysierten, an denen die »Flexibilisierung« des Arbeitsmarktes nahezu vorbeiging. »Das war zu kurz gedacht«, sagte Dörre gegenüber ND. Spätestens mit der Studie »Prekäre Beschäftigung« (2006) der Friedrich-Ebert-Stiftung nahm der Diskurs, der in Frankreich seit fast 20 Jahren geführt wird, auch in Deutschland Fahrt auf – nicht zuletzt weil die unsicheren Verhältnisse als soziale Realität deutlich wahrnehmbar waren.

»Wir müssen Prekarität in allen Lebensbereichen sehen«, sagte auch Ute Klammer, Politikprofessorin an der Uni Duisburg-Essen. Derzeit arbeitet sie an einem Forschungsprojekt, das die Auswirkungen der Prekarität untersucht. Besonders Frauen seien von der Entwicklung betroffen, sagte Klammer. Ihr ohnehin sehr hoher Anteil bei den Niedrigbezahlten steige ständig. Da sich gleichzeitig tradierte Geschlechterrollen kaum änderten, müssten die Frauen neben dem miesen Job noch Kinder und Haushalt versorgen. Die Prekarisierung sei dabei nicht nur das »Ergebnis von Marktprozessen«, sondern sei zusätzlich »politisch ermöglicht« worden, die Instrumente sozialer Absicherung wurden abgebaut. Der Qualifikationsstatus von Erwerbslosen werde nicht geschützt, solange man jeden Job annehmen müsse. Die Anforderung sei »lebenslange Flexibilisierung«, doch das Ergebnis ist Unsicherheit.

Die Gewerkschaften hätten die Aufgabe, prekäre Verhältnisse zu verhindern, ohne die Prekären zu bekämpfen, sagte Heiner Dribbusch, WSI-Experte für Tarif- und Gewerkschaftspolitik. Es gebe sowohl betriebs- als auch gewerkschaftspolitische Herausforderungen. Zum einen könnten Betriebsräte über Betriebsvereinbarungen beispielsweise die Befristung bei Neueinstellungen eindämmen. Den Gewerkschaften falle dagegen die Aufgabe zu, auf der politischen Ebene eine weitere Deregulierung des Arbeitsmarktes zu verhindern.

Das Herbstforum endete am Freitag mit einer Podiumsdiskussion unter dem Titel »Was ist konkret machbar?« Mit gewerkschaftlichen Organizing-Projekten, Initiativen zum Teilzeitbefristungsgesetz und hoffentlich auch dem Druck auf der Straße soll das Thema Prekarisierung weiter präsent bleiben.

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