Von wegen Gastlichkeit
Komische Oper Berlin: Sebastian Baumgarten inszenierte Benatzkys »Im weißen Rößl«
Kaum hat die Musik breit und satt die Erkennungsmelodie von Josepha Vogelhubers streng geführtem Folklore-Gasthaus »Weißes Rößl« in den Zuschauerraum gedröhnt, erfährt man vom ebenso ohrenerschütternd jodelkundigen wie drallen Postmadel Kathi, dass sie weder lesen noch schreiben kann. Schon fühlt sich der geneigte Gast ganz wie zu Hause. Und so soll es sein in der Urlaubsidylle. Exotisch, aber kein bisschen anders als sonst. Pommes rot-weiß in der Südsee oder, bittschön, Sauerkraut im Salzkammergut. Dazu kommt, was sonst noch nötig ist: »Einmal Kaffee, ein weiches Ei, ein bisserl Lieb', vier Kronen drei«. Der Kellner rechnet, der Gast blecht.
»Das ist der Zauber der Saison«, singt der vorzügliche Chor der Komischen Oper. Sex und Geschäft, besser Sex als Geschäft, das ist das Lebensblut, das alle saugen vom properen Stubenmaderl bis zum Bürgermeister in St. Wolfgang. Und war es schon bei Hans Müller und Eric Charell, den Librettisten von Ralph Benatzkys »Weißem Rößl«, Uraufführung 1930. Regisseur Sebastian Baumgarten schmiert jetzt dem Publikum der Komischen Oper ordentlich auf den Butterwecken, deutlich, aber niemals bis zum Anöden fett, dass Tourismus keine Gastlichkeit ist, sondern eine Industrie. Die Herzensangelegenheiten im »Rößl« haben sich dem Takt der Maschinerie unterzuordnen. Liebesbrief und Liebesnest heißen hier Speisekarte und Zimmerverteilung, glashart.
Ein bisschen Wien, aber vor allem eine ordentliche Portion Berlin, verkörpert in Irm Herrmann als Kaiser einerseits und Dieter Montag und Kathrin Angerer als Trikotagenfabrikant Giesecke nebst Tochter andererseits, würden ausreichend begründen, das Stück in der Komischen Oper anzusetzen. Darüber hinaus galt die Wette, ob es gelingen würde, die streichorchestral schmeichelnde, dekorativ tümelnde und emotional herzige Heimatschnulzenbonbonniere der 60er Jahre in den witzigen, krass montierten, vor allem aber instrumental prickelnden Revuezustand zurückzuversetzen, den sie zur Berliner Uraufführung hatte.
Ein Zithertrio, eine kleine Jazzband sowie eine Dampfer- und eine echte Feuerwehrkapelle ergänzten die von Koen Schoots angeführte Musik aus dem Orchestergraben. Zum Empfang des Kaisers beim Schützenfest ging der ganze Laden auf einmal los. Die Mischung, ergänzt durch einen mächtigen Choral sowie Böllerschüsse, ergab eine Klangstruktur, die Charles Ives begeistert und wohl auch Kurt Weill gefallen haben könnte, schauerlich schräg. Koen Schoots ging mehrfach einen Tick zu heftig in die Vollen, sei es drum.
Janina Audick hat ein vollmilchbraunes Schokoladenhexenhaus an den Wolfgangsee gebaut, das mit seinen Klappen und Fenstern den raschen Szenenwechsel der Revue trefflich bediente. Nicht weniger sinnig die Kostüme Nina Kroschinskes, die die Verwandlung munterbunter Touristen in schwarz-weiße Schneidigkeit, die 1930 schon heraufzog, ins Bild setzte.
Sebastian Baumgarten hatte seinen grandiosen Hauptdarsteller Max Hopp für dieses unterschwellige Spiel mit der Zeitgeschichte, personifiziert durch einen österreichischen Emporkömmling. Vom tränenselig liebesleidenden Zahlkellner, vom virtuosen Narren verwandelte er sich in gespenstischem Tempo zum plötzlichen Herrn im Hause. Frau Josepha, das angebetete Peppinettchen, wird das Gruseln lernen mit diesem zukünftigen Ehemann, der doch eigentlich nur die bescheidene Lösung sein soll. Der umschwärmte Anwalts-Stammgast schwelgt leider überraschend mit dem Fabrikantentöchterlein im Walzertakt.
Der Virtuosität Max Hopps konnte man dreieinhalb Stunden gebannt folgen. In ein paar Schritten von links vorn bis zur Bühnenmitte konnte er Charlie Chaplin, Bruno Ganz und Hitler auf einmal spielen; Zitate von Zitaten und Parodien von Parodien erheiterten noch in der dritten Ableitung. Sebastian Baumgartens Volksbühnen-Sozialisation fand in ihm das ideale Medium. Hopp kaufte, man wagt es kaum zu schreiben, selbst einem Theater-Urwesen wie Dagmar Manzel, natürlich als Rößl-Wirtin, streckenweise den Schneid ab. Zumal er auch annähernd so gut wie Manzel singen konnte.
Die Uraufführung war fast durchweg mit Schauspielern besetzt gewesen. Ob allerdings je so viel vokales Ungenügen zu hören war wie von Kathrin Angerer oder gar Irm Herrmann, darf angezweifelt werden. Natürlich, Angerer lieferte über ihr brillantes Schandmaul hinaus noch faszinierende Tanz- und Sportkünste, der Piccolo Miguel Abrantes schien aus einen Fellini-Film entliehen, Dieter Montag pries unser schönes Berlin mit der gleichnamigen Schnauze und Thorsten Merten durfte als Naturidealist eine wenig schwärmen, aber die Auftritte der »richtigen« Sänger Christoph Späth als sportiver Rechtsanwalt Siedler und, so viel Operette muss sein, Peter Renz als schöner Sigismund waren auch immer wieder erholsam.
Dass alles in der Komischen Oper so geworden wäre wie weiland in Eric Charells Riesen-Rößl-Revue, verneint schon das Programmheft: keine echten importierten Watschentänzer, keine Girl-Reihe, kein nacktes Fleisch – man trägt Trikotagen zum Heilschlammbad. Das Vorhaben aber, ein Publikum einen Abend lang mit Witz und Opulenz zu unterhalten, ist gelungen. Man lacht über eine Klamotte, aber man lacht niemals unter seinem Niveau.
Nächste Vorstellung am 11.12.
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