Wandel, Widerspruch, Bewegung: Leben eben
Einzig das Konzerthaus Berlin ehrt den Komponisten Paul-Heinz Dittrich zum 80. Geburtstag durch dessen Werk
Er kannte starres, experimentelle Ansätze wegrasierendes Denken aus DDR-Zeiten – und dessen teils schwerwiegende Folgen. Und er begriff schon früh: Jenseits der Demarkationslinie dirigieren konservative, reaktionäre Kreise den Kompositionsbetrieb. Der hat Dittrich einmal hofiert. Zeitweilig erklangen seine Werke vorzugsweise in Witten, Donaueschingen, im WDR oder im Südwestfunk. Das ist lange vorbei. Heute ist er gleich seinen Kollegen darauf geworfen, einer von Hunderten zu sein. Die Ränge kippten bekanntlich nur so, nachdem die Mauer in Trümmer ging. Eben noch Persönlichkeiten (die allemal den Namen verdienten), waren sie nun Künstler wie der von Studio X, der Soundtracks produziert. Der kriegt wenigsten ordentlich Kohle. Wer über die maßgeblichen Feuilletons die Rangliste erklimmt, der ist wer.
Im Grunde ist das Dittrich egal. Er weiß, was er kann. Heute, sagt er, meckern die Herrschaften wieder: zu schwer! Unspielbar! Aber er mag nicht ändern, was er guten Gewissens komponiert hat. Wer tilgt schon »falsche Formulierungen«, die gar nicht falsch sind? Dittrich in solchen Fällen: Dann bleibe es eben liegen.
Schändlich oft, wie der Betrieb mit ihm und seinesgleichen umspringt. Einzig das Konzerthaus Berlin ehrte ihn jetzt zum Achtzigsten. Problem ohnehin: Aufträge sind rar, der alte Mäzenat Rundfunk schrumpelt vor sich hin, streicht ganze Achsen Neuer Musik und frisst ungeniert an seinem Kulturauftrag. Die noch bestehenden Auftraggeber klagen allesamt über dezimierte Töpfe. Schärfere Verteilungskämpfe und Zwist untereinander sind programmiert. Ost gegen West und umgekehrt. West ignoriert nach wie vor Ost oder duldet Ost mitleidig, was schlimmer ist. Ost setzt dem Eigenes entgegen, hat aber kaum Euros dafür.
Unmöglich, in diesen Gegensätzen überhaupt zu denken. Aber blind ist, der sie nicht klaffen sieht, klaffen nach wie vor. Mühselig die Arbeit, ein Konzert auf die Beine zu stellen. Idealismus ist gefragt. Dittrich klagt nicht, weil, er kann sich die Dinge erklären. Der Kompositionsmarkt könne gar nicht anders sein unter diesen banausischen Verhältnissen. Dass der Jubilar den ganzen anti-musikalischen Irrwitz, der aus den Bildröhren und sonstigen Medien gellt, als zivilisatorische Verirrung höhnisch von sich weist, liegt in der Natur der Sache. – Einzig wichtig: er arbeitet weiter, unverdrossen.
Der Zeuthener Komponist, geboren am 4. Dezember 1930 in Gornsdorf/Erzgebirge, ist unverbesserlich. Wandel, Bewegung, Widerspruch sind für ihn ein entscheidendes Triebmoment. Unbestritten wohnt Veränderung in seinem bisherigen Werk, manifest allenthalben in den durchnummerierten Kammermusiken, den Klaviermusiken, den Orchester- und Konzertmusiken. Die Moderne seit Schönberg, Berg, Webern sei für ihn Hintergrund, sagt er, und genauso die Wertschätzung der Meister, welche die Musik vorangebracht haben. Unschwer, sich auf J. S. Bach kompositorisch zu beziehen. Fast jeder ernsthafte Komponist scheint das zu tun. Nur wie? Bei Dittrich, darin mag er vielleicht romantisch sein, ist die Bach-Beziehung innig, tief, substantiell. Man gewahrt eine barocke polyphone Denk- und Schreibweise durch sein ganzes Werk hindurch. Nicht selten enthüllen seine Stücke Bach-Bezüge, offen wie verdeckt. Tagklar etwa in »Cantus I« für Orchester, der ein Bach-Choral, blechblasphonisch bearbeitet, voranstellt. Und indirekt hörbar etwa in dem zwischen Morendo und Capriccio changierenden Schluss des Violoncellokonzerts von 1975.
Fortan schreibt der Komponist und einstige Hochschullehrer Kammermusiken unterschiedlicher Besetzung. In größeren Abständen produziert er insgesant fünf Streichquartett-Partituren, und ein Ende ist nicht abzusehen. Zu Buche schlagen sodann mehrere Trios, die er »Journale« nennt, lockere Formen mit einem jeweils anderen führenden Instrument. Opernwerke sind nicht enthalten in seinem Verzeichnis, dafür großbesetzte vokal-instrumentale Werke wie »Engführung« und »Menetekel«. Schwer wiegen nicht minder acht aufgeführte Klaviermusiken aus seiner Feder, eine jede anders in Ausdruck, Dauer, Form, Struktur und Schwierigkeitsgrad. Eine neunte Klaviermusik, zuzüglich sechs Vokalisten, liegt in der Schublade. Die Interessen und Bedürfnisse wechseln und überlappen sich. In die 1980er Jahre fallen instrumentaltheatralische Formen wie »Die Blinden« nach Maurice Maeterlinck und »Spiel« nach Kafka. Eine bestechende Bilanz.
Wesentlich ist die sensible Einbindung von Poesie in seine Arbeiten, sei es in Gestalt hochorganiserter Vokalparts, dichterischen wie phonematischen, oder Sätze, Worte, Silben hinter den Noten, nur eingetragen in die Partitur. Dittrichs kompositorischen Weg säumen Dichter wie Celan, Verlaine, Baudelaire, Rimbaud, Chlebnikow, Jessenin, Joyce, Goethe, Hölderlin, Neruda, Brecht, auch Samuel Beckett, den er selbst noch kennenlernen durfte. Überdies Maeterlinck, Kafka, Heiner Müller, Texte der Bibel, und anderes mehr.
Manche Anregung empfing der Komponist von dem utopischen Kommunisten und Künstler Carl Friedrich Claus. Sie befreundeten einander in den 70er Jahren. Allenthalben die brüchigsten, das Material vielfach aufsplitternden Stücke weisen auf diesen eigensinnigen Zeichner und experimentellen Sprachkünstler. Neu damals Claus' Techniken des Überkopierens, des Überfremdens von gedruckten, geschriebenen, notierten Texten. Ins Kompositorische übersetzt, finden sie ihren Abdruck auch im 3. Streichquartett von 1988. Es geht zurück auf Dittrichs Beschäftigung mit dem Dichter Novalis. Eine die geistig-sinnliche Welt des Komponisten tief berührende Auseinandersetzung, und freilich auch Reflexion auf die seinerzeitige Zeit. Verse, Denkmaterial aus »Hymnen an die Nacht« strukturieren und erfüllen die geistige Kontur dieses Quartetts mit dem Titel »Nacht-Musik«. Kein Wort ist vernehmbar, Verse stehen lediglich in den Noten. Aber dass »Nacht« die ganze Musik durchweht, Nacht in all ihren Schönheiten und Vorzügen gegenüber dem Licht, wodurch die Tragik des Todes der Geliebten, die der Dichter besingt, am Ende sinnfälig wird, daraus entlässt die Musik den Wahrnehmenden nicht. Ein Werk von stupender Erfindungskraft, es dauert 40 Minuten, technisch so vertrackt und gestaltreich, dass es nur von den versiertesten Spezialensembles aufzuführen sein dürfte.
Das Sonar Quartett führte dieses unglaubliche Kunstwerk nun im Werner-Otto-Saal des Konzerthauses auf. Den jungen Musikern, jeder gebietet über reiche solistische Parts, gelang eine wunderbare, in allen Teilen makellose, ausdrucksvolle Wiedergabe. Gottverlassen die finale Atmosphäre, langdauernde stille Musik. In jedem Strich, jedem Luftzug der Spielenden, jeder noch vernehmbaren Schwingung führt sie Leben, Liebe mit.
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