Nachtwächters letzte Runde
In Oberwesel geht Walter Persch in den Ruhestand. Er hat nicht nur Touristen die Stadt nahe gebracht
Oberwesel. Die kräftige und lebendige Stimme von Walter Persch ist imposant. Er ist ein Mann, der gewohnt ist, Geschichten und Geschichtchen zu erzählen. Seiner Stimme folgt man gerne. Dieser Tage hängte der Nachtwächter von Oberwesel jedoch seinen breitkrempigen Hut an den Nagel. Auch die anderen Teile seiner auffälligen Ausrüstung wie Umhang, Laterne und Hellebarde – eine axtförmige Klinge auf langem Stiel – bleiben fortan im Schrank. Mit 80 Jahren will der bekannteste Stadtführer der »Stadt der vier Türme und des Weines« in »Rente« gehen und nur noch aushilfsweise Gästen von Teufeln, Mönchen und geheimen Liebschaften erzählen.
Persch hat rund 20 000 Touristen aus ganz Deutschland über die Jahre hinweg auf dem drei Kilometer langen Rundgang vom Leben am Rhein in den vergangenen Jahrhunderten erzählt. Alte Geschichten von Liebe, Leid, Lust und List haben er und seine Mitstreiter wieder aufleben lassen. Denn seine Besucher erwartete kein langweiliger Historienvortrag. Der 80-Jährige hat seine Liebe zur Stadt und sein Traditionsbewusstsein, das er als unabdingbare Voraussetzungen für diesen Job erachtet, in kleine Inszenierungen gepackt. Auf dem zweistündigen Rundgang begegnet man beim Kloster einem barfüßigen Mönch. Und auf dem Marktplatz erscheint mit rotem Feuerschein der Teufel persönlich, um seiner Wut über die listigen Oberweseler Winzer freien Lauf zu lassen. Schließlich hatte er ihnen stets eine gute Ernte versprochen, wenn sie nur jedes Jahr auf dem Marktplatz ein Fass Wein für ihn deponieren. Doch irgendwann war den Weinbauern dieser Obolus zu viel und der Teufel bekam Weihwasser zu schmecken. Das ist eine der vielen Geschichten, die Persch erzählt.
Geschichten komponieren
Als der ehemalige Winzermeister und langjährige Stadtführer vor fünf Jahren vom Tourismusverband zum Nachtwächter überredet wurde, wollte er »erlebte Geschichte und Geschichten komponieren«. Seine Idee: Bürger einzubinden und Stadtgeschichte an verschiedenen Stellen zu inszenieren, stieß auf Begeisterung.
»Ich habe den Oberweselern ihre eigene Geschichte nahe gebracht«, sagt Persch stolz und ist dankbar dafür, dass er so viele Helfer gefunden hat. So führte er etwa gerne seine Gruppen zur Alten Schmiede, wo dann die heutigen Besitzer wieder den Hammer über dem Amboss schwingen.
Doch mit 80 Jahren fällt es auch Persch immer schwerer, »wenn man im Winter gemütlich abends im Sessel sitzt und es draußen nieselt«, sich aufzuraffen und seine Tour bei Nacht zu machen. Deshalb hat er sich einen Nachfolger »herangezogen«, der die gut 700 Jahre alte Tradition des Nachtwächters weiterführen wird.
Wirkung der Straßenlampe
Man vermutet, dass der erste Wächter bereits nach dem Bau der Stadtmauer um 1200 in Oberwesel für Ruhe und Ordnung sorgte. Er warnte die schlafenden Bürger vor Feuern oder Dieben. Vielerorts war es auch seine Aufgabe, die Stunden anzusagen.
Mit der Einführung von Straßenbeleuchtungen begann der Beruf langsam seine Bedeutung zu verlieren. In Oberwesel ging Perschs noch bei der Stadt fest angestellter Vorgänger erst im Jahre 1963 in den Ruhestand. Jetzt will auch Persch nur noch Aushilfsnachtwächter sein – etwa zwischen Weihnachten und Neujahr.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!