»Wer wenig hat, kann nicht viel ausgeben«
Wenn das Geld für Schneehose und Fußballschuhe fehlt: 2,5 Millionen Kinder in Deutschland sind von Armut betroffen
Die 35-jährige Nadine F. aus einer Kleinstadt in Brandenburg, alleinerziehende Mutter dreier Töchter mit Hartz IV, hat gerade einen Anruf aus der Schule erhalten. Celine, die Mittlere der drei Mädchen, ist krank und soll abgeholt werden. Es hat frisch geschneit, Nadine F. konnte sich keine Winterreifen für ihr Auto leisten. Ein Freund aus dem gemeinsamen »Verein für soziale Selbstverteidigung e.V.« holt die Tochter ab.
Celine zieht ein langes Gesicht, als sie zu Hause ankommt. Sie geht gern zur Schule. Am liebsten hat sie Kunst und Politik. Aber ihre Erkältung ist so stark, dass die Stimme ganz und gar weg ist. Celine ist von klein auf von Neurodermitis und Asthma geplagt. Dank ihrer Kinderärztin hatte sie die Krankheiten im Griff. Doch der Weg in die Arztpraxis ist zu weit. Die Mutter kann es sich nicht mehr leisten, mit der Tochter dorthin zu fahren. Nun kommen auch noch Medikamente gegen die Erkältung hinzu, die, weil Celine älter als zwölf Jahre alt ist, selbst bezahlt werden müssen. Zum Glück gibt es für die Kinder von Hartz-IV-Beziehern die Schulbücher kostenfrei. Das aber ist ein ganz anderes Problem. Celine könnte im Erdboden versinken, wenn der Lehrer lautstark in die Klasse ruft: »Wer hat denn seine Bücherbescheinigung mit?« Wenn sie dann ihre Hand hebt und alle sie anstarren, fühlt sie sich diskriminiert.
Unlängst kam sie empört nach Hause. Hatte doch eine Freundin zu ihr gesagt, dass ihre Familie gar keine typische Hartz-IV-Familie sei, denn die würden im Fernsehen ja immer als Trinker dargestellt. Die alltäglichen Demütigungen sind es, die das Leben mit Hartz IV so schwer machen, ist sich Nadine F. sicher. Mit dem Geld lernt man letztendlich irgendwie haushalten.
Die Vermessung der Menschenwürde
Nach dem Hartz-IV-Regelsatz erhält ein erwachsener Arbeitsloser bisher 359 Euro. Kinder ab 14 bekommen 287 Euro, jüngere zwischen 215 und 251 Euro. Doch es gibt vieles, was nicht geregelt ist. Immer wieder muss geklärt werden, was angemessen erscheint in Bezug auf Miete, Renovierungen, Heizkosten. Und wenn es um die Vermessung menschenwürdigen Lebens geht, bleiben Demütigungen nicht aus.
Das weiß auch die 32-jährige Carmen N. aus Berlin. Sie lebt mit dem neunjährigen Dustin ebenfalls von Hartz IV. Als gelernte Hauswirtschaftshelferin bekam sie zwei Jahre nach Dustins Geburt keine Arbeit mehr. Das Kind war meistens der Grund für eine Absage. Dustin ist begeisterter Fußballspieler. Das Geld für den Verein zahlt zum Glück das Bezirksamt, aber die Fußballschuhe sind teuer, vor allem wächst ein Kind mit neun Jahren schnell. Da muss sie dann anderweitig sparen. Winterstiefel werden im Discounter für zehn Euro gekauft, ebenso Hosen und T-Shirts. Man muss immer nach Sonderangeboten schauen, sagt Carmen N.
Wenn Dustin vom Training kommt, kocht sie extra für ihn, denn dann hat er großen Hunger. Kochen hat sie als Hauswirtschaftshelferin gelernt, vor allem gesunde Kost. Obst und Gemüse sind nicht billig, aber dafür gibt sie Geld aus. Natürlich reicht es dann meist nicht bis zum Monatsende. Doch Dustin geht ihr über alles. Morgens bringt sie ihm das Frühstück ans Bett. Sie will ihn wenigstens ein bisschen verwöhnen, wenn es an materiellen Dingen schon fehlt. Momentan träumt er davon, Polizist zu werden. Sie möchte ihm Vorbild sein und schon deshalb bald wieder einen neuen Job haben. Dann könnte sie endlich Dustins Zimmer streichen.
Die LINKE sieht das Grundübel für Kinderarmut im Stellenwert der Kinder und will deshalb Kinderrechte in das Grundgesetz aufnehmen. Diana Golze, Sprecherin der Bundestagsfraktion für Kinder und Jugend, verlangt für Kinder ein Recht auf Förderung, Schutz und Teilhabe. So lange ein Staat die Wirtschaft mit einer Abwrackprämie von 2500 Euro fördert, für Kinder aber nur ein Bruchteil vorhanden ist, stimmt etwas nicht, so Golze.
Schwierige Freizeitgestaltung
Eine Studie kommt zu dem vernichtenden Ergebnis, dass Berlin die Stadt mit dem größten Armutsrisiko ist. In Hellersdorf ist »Die Arche« Auffangbecken für die Ärmsten der Armen. Sie bekommen täglich zwei Mahlzeiten und vor allem viel Liebe, sagt Wolfgang Büscher, der Pressesprecher der Einrichtung.
Die 26-jährige Jessica L. kommt täglich mit dem fünfjährigen Max und dem dreijährigen Alexander hierher. Auf Grund eines Bandscheibenvorfalls konnte sie ihren erlernten Beruf als Malerin/Lackiererin nicht mehr ausüben und wurde arbeitslos. Sie ist froh, in der Arche Essen zu bekommen. Auch gibt es Angebote für eine sinnvolle Freizeitgestaltung für die Jungen. Früher hatte Jessica L. eine Jahreskarte für den Tierpark. Das ist ihr jetzt zu teuer. Sie hofft auf eine Reha für ihr Rückenproblem und eine Umschulung. Dann käme sie aus dieser misslichen Lage heraus.
Im Wedding sorgt der Kinderschutzbund für sozial Schwache, darunter die vier Kinder von Sofia U. Sie ist Hausfrau, geboren in Kosovo. Ihr Mann hat einen Minijob. Die Familie erhält vom Jobcenter monatlich 1500 Euro, wovon allein 750 Euro Miete für die Drei-Zimmer-Wohnung abgehen. Frau U. sagt, dass sie selbst viel zurückstecken muss, damit die Kinder zufrieden sind. Sie kauft in Billigläden und legt Geld zur Seite. Die Fußballschuhe für ihren Ältesten kosten viel Geld. Bei den drei jüngeren Kindern hatte sie Glück, dass der Arzt ihnen Überweisungen fürs Rehaschwimmen ausstellte. Nun trägt die Krankenkasse die Kosten. »Man muss sehen, wo man bleibt und viel tricksen«, gesteht sie etwas verlegen.
Sozialpädagogin Kerstin Baber bestätigt das. Zum Beispiel haben Kinder bis zur 4. Klasse einen Anspruch darauf, das Ganztagsangebot von Schulen zu nutzen, doch mit Beginn der 5. Klasse muss ein neuer Antrag gestellt werden mit triftigen Gründen. Hier, so die Erzieherin, sei ihre ganze Kreativität gefragt.
Im Alltag bestehen die Schwierigkeiten darin, mit Kindern am Nachmittag die kostenlosen Klassenfahrscheine der BVG zu nutzen, die nur bis 14 Uhr gelten. Solche Hürden sollte es in Zukunft nicht mehr geben. Der Kinderschutzbund selbst hat zu geringe Mittel und ist teilweise auf Spenden angewiesen. Diese ermöglichten im Sommer zehn von 280 Kindern die Teilnahme an einem Camp. »Wie soll man den anderen 270 erklären, dass sie nicht fahren können?«, fragt Frau Baber. Dabei kommen die Kinder sehr gern hierher. Kürzlich waren sie Schlitten fahren. Doch einige hatten keine Schneehose, weil die mindestens 40 Euro kostet. Manchmal verleiht Frau Baber Klamotten ihres eigenen Sohnes an die anderen Kinder. Das Schöne im Wedding sei die Solidarität untereinander, versichert sie.
Eltern helfen
sich selbst
Dort wo es keine gesellschaftlichen Einrichtungen gibt, müssen sich Eltern selber helfen. Janina P. aus Sachsen-Anhalt klagt darüber, dass Kinder aus kleineren Dörfern die Angebote kaum wahrnehmen können, weil die entsprechenden Orte schwer zu erreichen sind. Sie selbst wurde arbeitslos, weil in ihrer ländlichen Gegend nur wenige Jobangebote vorhanden sind. Hartz IV wurde ihr gestrichen, weil das Nettogehalt ihres Mannes von 1100 Euro zu hoch ist. Das muss aber für die Familie mit drei Kindern reichen. Janina P. meint lakonisch: »Wer wenig hat, kann nicht viel ausgeben.« Also kauft sie nur für die Kinder ein und nur bei Discountern. Geld für die Gasheizung spart sie, indem sie Abrissholz besorgt und im Winter lediglich den Kamin heizt. Die Kinder sind zur Bescheidenheit erzogen. Die achtjährige Adelina singt sehr gern. Mit dem Schulchor hat sie große Auftritte erlebt. Das stärkt ihr Selbstbewusstsein, und die Mutter unterstützt sie, indem sie die Kleine immer wieder zu Proben und Auftritten fährt.
Alle Kinder zu fordern und zu fördern und ihr Selbstwertgefühl zu stärken, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Die bisherigen staatlichen Leistungen reichen nicht. Mancher hat Glück, so wie Jessica L., die ihre Umschulung zur Bürokauffrau bewilligt bekommen hat. Andere resignieren. Wenige kämpfen, wie Nadine F. mit ihrem Verein. Hier organisieren sie gemeinsame Behördengänge, »denn nur gemeinsam sind wir stark«, ist sich die resolute junge Frau sicher.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.