Empörung über ein Urteil in Indien

Proteste gegen lebenslange Haft für den Menschenrechtsaktivisten Binayak Sen

  • Hilmar König
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Schicksale des russischen Ölmagnaten Michail Chodorkowski und des chinesischen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo sorgten weltweit für Schlagzeilen. Das Schicksal des Inders Binayak Sen, der wegen »Aufwiegelung« zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, wurde dagegen in der internationalen Presse kaum erwähnt.

Im Unionsstaat Chhattisgarh, regiert von der hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP), verurteilte ein Gericht Dr. Sen am 22. Dezember zu lebenslanger Haft. Der Land- und Kinderarzt war der »Aufwiegelung« angeklagt worden. Bereits 2007 stand er wegen »Verrat, krimineller Verschwörung, Aufwiegelung, antinationaler Aktivitäten, Kriegführung gegen die Nation, Verbindungen zur KPI (Maoistisch)« vor Gericht. 2009 kam er gegen Kaution frei. Doch die Justiz verfolgte seinen Fall weiter.

Dr. Sen soll Kontakte zu maoistischen Rebellen unterhalten und als deren Kurier fungiert haben. Als »Beweis« diente, dass er als Arzt einen inhaftierten maoistischen Ideologen längere Zeit medizinisch behandelt hatte – mit behördlicher Genehmigung. Weiteres »Beweisstück« war eine nicht unterzeichnete, angeblich aus dem Gefängnis geschmuggelte Postkarte. Die Kritiker des Urteils sprechen von »fabrizierten Beweisen, schwindelnden sogenannten Zeugen und widersprüchlichen Stellungnahmen der Polizei«.

Binayak Sen hat alle Anschuldigungen zurückgewiesen und sich klar gegen die Gewalt der Rebellen ausgesprochen. Allerdings lehnte er auch vom Staat angewandte Mittel der Gewalt ab. Es ist kein Geheimnis, dass Sen als zeitweiliger Vorsitzender der Chhattisgarh-Branche der Volksunion für Bürgerrechte (PULC) scharf gegen Pläne der dortigen Regierung opponiert hatte, Land der Adivasi (Ureinwohner) zugunsten industrieller Projekte privater Großunternehmen zu beschlagnahmen. Zudem kritisierte er die mit Hilfe des staatlichen Sicherheitsapparats gebildete »Bürgerwehr« Salwa Judum, die eigentlich die Bevölkerung vor Übergriffen der maoistischen Guerilla schützen sollte, stattdessen aber eine Terrormaschinerie in Gang setzte, um vornehmlich lokale Widerstandsgruppen aus dem Weg zu räumen, damit in- und ausländische Konzerne Zugang zu Chhattisgarhs Bodenschätzen erhalten. Darin sehen die Sen-Sympathisanten die wahren Gründe für den Prozess und das Urteil gegen den Menschenrechtler. Sen ist weltweit anerkannt wegen seines Engagements für die Gesundheitsfürsorge in vernachlässigten ländlichen Gebieten, besonders unter den Adivasi. Er initiierte den Bau eines Hospitals und entwickelte ein System zur Ausbildung ländlicher Gesundheitshelfer. Unter Indiens Armen gilt er als Heilsbringer.

Zur Verurteilung kramten die Richter ein Gesetz aus der Kolonialzeit hervor, das ursprünglich der Bestrafung von Rebellion gegen den König diente. In Großbritannien längst im Papierkorb gelandet, ist es in Indien immer noch Teil des Strafgesetzbuches, obwohl Jawaharlal Nehru bereits 1951 für die Abschaffung plädierte.

Gleich nach der Urteilsverkündung brach ein Proteststurm los, der seinen Höhepunkt zum Gedenktag an die Ermordung Mahatma Gandhis Ende dieses Monats erreichen soll. Es hagelte Petitionen an Premierminister Manmohan Singh und Staatspräsidentin Pratibha Devi Singh Patil. Der Nationalrat der Kirchen Indiens, der muslimische All-India Milli Council, das Indian Community Activists Network, dem 25 demokratische Verbände angehören, Organisationen der Sikh-Minderheit und viele Persönlichkeiten haben Stellung gegen das Urteil bezogen. Ram Jethmalani, ein namhafter Strafverteidiger, brüskierte seine eigene Partei, die BJP, als er ankündigte, Dr. Sen bei dem zu erwartenden Berufungsverfahren vertreten zu wollen. Der ehemalige Gerichtspräsident Rajinder Sachar erklärte: »Ich schäme mich für eine Rechtsprechung, die ein derart lächerliches Urteil fällt.« Andere Juristen äußerten, das Gesetz gegen Aufwiegelung sei angewendet worden, um Menschenrechtler und politisch Andersdenkende zum Schweigen zu bringen. Der Schuldspruch bedeute grobes Unrecht und nähre Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz in der größten Demokratie der Welt. Der Sozialwissenschaftler Shiv Vishwanathan sprach von einem »entsetzlichen Unrechtsakt« und vom »Verrat einer ethischen Vision«. Sen gehöre zu jenen, die den Stummen eine Stimme gegeben haben. M.J. Akbar, Herausgeber des Magazins »India Today«, schrieb: »Indien ist eine merkwürdige Demokratie geworden, in der Binayak Sen lebenslänglich bekommt und man Räubern ein Leben in Luxus erlaubt.« Sen habe »einen fundamentalen, tödlichen Fehler gemacht. Er war auf der Seite der Armen.« Das sei in Indiens »oligarchischer Demokratie« ein unverzeihlicher Fehler.

Justizminister Veerappa Moily wies die Kritik indes zurück. Sie beeinträchtige faire Entscheidungen von Gerichten, verunsichere Richter und führe womöglich zum »Zerfall des Justizsystems«. Die Protestierenden sollten den Berufungsprozess abwarten.

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