Gefoltert und erschlagen
Heute vor 32 Jahren wurde Kambodscha von der Schreckensherrschaft des Pol-Pot-Regimes befreit
Die junge Frau auf dem Foto könnte heute etwa so alt sein wie ich und ihr Baby nur wenig älter als mein Sohn. Doch beide sind tot, wurden irgendwann zwischen 1975 und Anfang 1979 ermordet. Aufgenommen haben das Bild ihre Mörder im berüchtigten Phnom Penher Foltergefängnis Tuol Sleng, auch »S 21« genannt. Die Mutter und ihr Kind waren zwei von rund 14 000 Menschen – manche sprechen von bis zu 17 000 – die hier gefoltert und anschließend irgendwo umgebracht und verscharrt wurden.
Wer war die Frau auf dem Foto, frage ich mich, welche Zukunftsträume mag sie gehabt haben? Und welches Geständnis hat man aus ihr herausgefoltert? Vielleicht konnte sie ja lesen und schreiben, vielleicht war ihre Haut ein wenig zu hell, oder sie hatte gar studiert? All diese »Vergehen« galten als schreckliche Verbrechen im Kambodscha Pol Pots und wurden mit dem Tode bestraft. Ich weiß nichts über die junge Frau und ihr Baby – außer, dass beiden das Leben gewaltsam genommen wurde, wie zwei Millionen anderen auch.
Nur wenige überlebten
Tuol Sleng, heute ein Genozid-Museum, war einst eine Schule inmitten eines dicht belebten Stadtbezirks der kambodschanischen Hauptstadt. 1975 machten die »Roten Khmer« daraus das schlimmste nur vorstellbare Gefängnis. Die Klassenzimmer wurden leergeräumt, ein paar Trennmauern gezogen, um möglichst viele Zellen zu schaffen. In jede kamen ein Eisenbett mit eisernen Fußfesseln und ein Eimer für die Notdurft. Männer, Frauen und Kinder wurden mit einer Nummer versehen fotografiert – Ordnung muss schließlich sein – und danach ausführlich »befragt«. Dabei riss man ihnen die Nägel oder die Brustwarzen mit Zangen heraus, zog sie mit dem Kopf durch giftige Laugen, quälte sie mit Elektroschocks, schnitt ihnen die Gedärme auf, prügelte sie ins Koma. So lange, bis jeder der Gequälten ein Schuldbekenntnis unterschrieb. Mit Babys machte man gleich kurzen Prozess, warf sie in die Luft und fing sie mit der Bajonettspitze wieder auf.
Aus den nach der Befreiung gefundenen, akribisch geführten Unterlagen geht hervor, dass täglich rund 100 Menschen nach Tuol Sleng verschleppt und dort gefoltert wurden. 30 Jahre lang hieß es, nur sieben hätten die Hölle überlebt. Erst dieser Tage veröffentlichten kambodschanische Forscher eine Liste mit 202 Namen von Gefangenen, die zwischen 1975 und 1978 entlassen oder 1979 von den vietnamesischen Truppen befreit wurden.
Wer jemals dieses Folterlager gesehen hat, dem muss es als viel zu wenig erscheinen, dass der ehemaligen Lehrer Kaing Guek Eav, genannt Duch, der das Gefängnis leitete, im Juli 2010 zu nur 30 Jahren Haft verurteilt wurde. Wobei ihm die elf Jahre, die er bereits in Untersuchungshaft verbracht hat, selbstverständlich angerechnet werden.
Bevor ich das Foltermuseum verlasse, stecke ich an das Bild der jungen Frau und ihres Kindes eine der schönen duftenden Blüten vom Tempelbaum. Sie gelten in Asien als Symbol der Unsterblichkeit.
Tod nach Mundraub
Nach einer Stunde in der Hölle sitze ich völlig fertig draußen im ehemaligen Schulhof auf einer Bank. Heng Hak, unser Reiseleiter, der nicht mit in das Museum gegangen war, setzt sich zu mir und schweigt. »Ich kann verstehen, dass Sie nicht mit hinein wollten«, sage ich nach einer Weile, um das Schweigen zu brechen. Und dann erzählt er mir seine Lebensgeschichte.
Als Pol Pot an die Macht kam, war er fünf. Seinen Vater, ein Architekt, aus Sicht der neuen Machthaber ein lebensunwerter Akademiker, holten die Mörder gleich in den ersten Tagen. Der Junge sah ihn nie wieder, wie mehr als die Hälfte seiner einst großen Familie. Er selbst wurde in ein Kinderlager verschleppt, wo er im Sinne der »Roten Khmer« umerzogen werden sollte. Zwei Jahre später galt er als erwachsen und musste täglich zehn bis zwölf Stunden lang in einem Arbeitslager schuften. Es habe so wenig zu essen gegeben, erzählt Heng Hak, dass viele Kinder vor Entkräftung starben. Eines Nachts sei er aufgewacht und habe bemerkt, dass der Junge, mit dem er ein Bett teilte, verschwunden war. Am nächsten Morgen habe er ihn in einem Feld gefunden – erschlagen. Der Junge hatte vor lauter Hunger eine Mango gepflückt und gegessen. Das war sein Todesurteil, so Hak. Und für dessen Eltern gleich mit, weil sie einen Dieb erzogen hätten.
Nach den qualvollen drei Jahren, acht Monaten und 20 Tagen, in denen es nur ums Überleben ging, begann sein zweites Leben. Der inzwischen fast Neunjährige konnte endlich zur Schule gehen. Wie ein Süchtiger habe er alles in sich aufgesogen, erzählt er. Das Lernen und sein buddhistischer Glaube halfen ihm, mit dem Erlebten und den familiären Verlusten umzugehen. Heng Hak konnte das Abitur ablegen und wurde danach 1989 in die DDR, nach Wismar, zum Studium geschickt. 1997 kehrte er als Hochbauingenieur und Baustatiker nach Kambodscha zurück. Heute lebt der 41-Jährige in der Nähe von Phnom Penh. Er arbeitet freiberuflich sowohl in seinem erlernten Beruf wie auch als Übersetzer und Reiseleiter für deutsche Veranstalter. Inzwischen hat er selbst eine Familie, vor ein paar Monaten kam seine dritte Tochter zur Welt. Als Heng Hak von den Kindern spricht, verwandelt sich sein bis dahin angespanntes Gesicht und wird ganz weich. Stolz erzählt er von den Mädchen und davon, dass er und seine Frau alles tun, damit die Töchter, anders als ihre Eltern, eine schöne Kindheit haben. Und irgendwann, wenn sie alt genug sind, werde er ihnen auch das hier – er weist auf die Folterstätte – zeigen, sagt er. Damit sie verstehen!
Baumrinde rot vom Blut
Später fahren wir hinaus in das Vernichtungslager Choeung Ek, 15 Kilometer vor den Toren der Hauptstadt, eines von 300 »Killing Fields« in Kambodscha. Dort – auf dem Gelände eines einstigen Obstgartens und chinesischen Friedhofs – starben mindestens 17 000 Menschen, die meisten wurden unmittelbar nach ihrem »Geständnis« aus Tuol Sleng hierhergebracht und erschlagen. Selbst eine Gewehrkugel waren die Menschen den Pol-Pot-Schergen nicht wert. Mit Eisenstangen, Knüppeln und Gewehrkolben schlug man ihnen die Schädel ein und verscharrte sie in 129 Massengräbern. 43 wurden vor Jahren geöffnet. Die Schädel von 5000 Menschen sind heute in einer gläsernen Gedächtnisstupa im Zentrum des Mahnmals zu sehen. Ein Anblick, den man nur mit Mühe ertragen kann. Nur weg von hier! Doch wohin? Wohin man sich auch wendet, jeder Zentimeter in Choeung Ek erzählt Grauenvolles.
Fassungslos stehe ich vor einem uralten Baum, dessen Rinde auch nach 32 Jahre noch rot ist. Sie ist getränkt mit dem Blut tausender Babys, die mit dem Kopf so lange gegen den Baum geschlagen wurden, bis sie keinen Ton mehr von sich gaben. Ich sehe das Bild der jungen Frau und ihres Babys vor mir und kann die Tränen nicht aufhalten.
Am Abend frage ich Heng Hak, wie er es schafft, mit dem Erlebten weiterzuleben. »Indem ich hoffe, dass die Verbrecher irgendwann ihre gerechte Strafe bekommen«, sagt er.
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