Machtwechsel in Tunis
Tunesiens Übergangspräsident verhandelt mit Parteien über Regierung der nationalen Einheit
Tunis/Paris (dpa/ND). Chaos und Gewalt in Tunesien: Nach der überstürzten Flucht von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali ins Exil mühen sich die neuen Machthaber und das Militär, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Unruhen prägten die ersten Stunden nach dem Ende der Ära Ben Ali, der sich nach Protesten gegen sein Regime am Freitag nach Saudi-Arabien abgesetzt hatte. Auch am Sonntagnachmittag fielen noch Schüsse im Zentrum der Hauptstadt Tunis. Seit Beginn der Proteste starben weit mehr als 130 Menschen, darunter auch ein deutsch-französischer Fotograf. Binnen 24 Stunden hatte das Mittelmeerland drei Präsidenten.
In Tunis ging die Armee gegen Mitglieder der Leibgarde von Ben Ali vor. Nach unbestätigten Berichten wurde der Chef der Leibgarde festgenommen. Augenzeugen berichteten immer wieder von Plünderungen und verschärften Kontrollen des Militärs. Im Zentrum standen am Sonntag weiter Panzer auf den Straßen. Seit der Flucht von Ben Ali gilt in Tunesien der Ausnahmezustand. Auch der Luftraum war zwischenzeitlich gesperrt.
Die großen Reiseveranstalter holten am Wochenende deutsche Urlauber aus Tunesien nach Hause. Am Sonntagabend sollten rund 5000 deutsche Touristen wieder daheim sein. Bei ihrer Rückkehr berichteten viele von Schüssen und Gewalt auf den Straßen.
Übergangspräsident Foued Mebazaa soll nun schnell Wahlen vorbereiten. Der 77-Jährige war schon der zweite Übergangspräsident, der nach der Flucht von Ben Ali ernannt worden war. Nachdem sich der Langzeitpräsident ins Exil abgesetzt hatte, war zunächst Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi mit den Amtsgeschäften betraut worden. Ghannouchi soll im Auftrag von Mebazaa nun in Gespräche mit der bisher kaum formierten Opposition treten.
Mehrere Kritiker des alten Regimes erklärten am Sonntag, sie seien mit den Beratungen über die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit nicht zufrieden. Einige von ihnen sagten in Interviews mit arabischen Fernsehsendern, Ghannouchi sei Teil des alten Systems von Ben Ali. Mit ihm sei ein Neuanfang deshalb nicht möglich. Andere erklärten, einige vormals illegale Oppositionsparteien, darunter die Kommunisten, seien zu den Gesprächen nicht eingeladen worden. Diese hätten aber auch ein Recht, mit am Tisch zu sitzen.
Die Aussicht auf baldige Wahlen ist für manche Tunesier allerdings auch Anlass zu Sorge. »Wenn jetzt schnell eine Wahl abgehalten wird, kann die Opposition sich nicht organisieren«, erklärte zum Beispiel der 25-jährige Elias Nefzaoui in Tunis.
Bei einem Gefängnisbrand im Küstenort Monastir starben nach Angaben von Ärzten bis zu 60 Menschen. Nach ersten Erkenntnissen wollten die Häftlinge fliehen und hatten ihre Matratzen in Brand gesteckt. Die Flammen hätten dann schnell auf das gesamte Gebäude übergegriffen. Auch in der Stadt Kasserine stand ein Gefängnis in Flammen.
Die Bundesregierung rief Tunesien auf, eine Demokratie aufzubauen. Bundeskanzlerin Angela Merkel bot dazu Deutschlands Hilfe an.
Libyens Staatschef Gaddafi kritisierte die Proteste im Nachbarland. Zu den neuen Machthabern, die Ben Ali nach 23 Jahren im Amt ablösten, sagte er: »Ich kenne diese neuen Leute nicht, aber wir alle kennen Ben Ali und die Veränderungen, die in Tunesien erzielt wurden. Warum zerstört ihr dies alles?« Tunesien habe sich jetzt »in ein Land verwandelt, das von Banden regiert wird«, so Gaddafi.
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