Kein Neuanfang mit alter Garde
Wendezeit in Tunesien – Aufbruchstimmung trotz noch nicht entschiedener Machtfrage / Ben Alis Einfluss wird weiter gefürchtet
Statt des gewohnten Jasmindufts hängen Tränengasschwaden über dem Tuniser Prachtboulevard Habib Bourguiba. Hektisch fordern mit MPis und Schlagstöcken bewaffnete Polizisten in Uniform und Zivil die Passanten unweit des Eingangs zur Medina, der Altstadt, zum Weitergehen auf. Dennoch bleiben die Leute in kleinen Gruppen stehen und diskutieren. In unmittelbarer Nähe steht ein Panzer der tunesischen Armee. Die Besatzung hält sich auffallend zurück und beobachtet ruhig das Geschehen. Plötzlich dringen aus einer Nebenstraße Sprechchöre eines Demonstrationszuges. Die Menschen fordern das Ende der bisher allein regierenden Ben-Ali-Partei RCD. Die dumpfen Detonationen von Tränengasgranaten hallen erneut durch die Straßen. Aus der riesigen Rauchwolke dringen Schreie und Rufe. Die Demonstranten werden vom Boulevard weg in die dahinter liegenden Viertel gedrängt. Eine Frau taucht taumelnd und weinend aus der Wolke auf und wird von einem älteren Mann gestützt. Sie hat von der Polizei Schläge auf den Kopf erlitten. »Das ist das Werk des Innenministers«, sagt ein junger Mann und wischt sich mit einem Tuch die tränenden Augen. »Es sind immer noch dieselben Leute. Davon haben wir genug.«
Die Situation beruhigt sich wieder, bis sich nur wenige Minuten später dasselbe Szenario abspielt. So geht es stundenlang bis zum Nachmittag. Es ist die Zusammensetzung der Übergangsregierung des auch nach dem Sturz Ben Alis in seinem Amt gebliebenen Premierministers Mohamed Ghannouchi, die die Volkswut weiter am Kochen hält. Die Demonstranten werden von der Nachricht ermutigt, dass sich inzwischen einige Minister und Staatssekretäre aus dem Kabinett aus Protest gegen den Verbleib alter RCD-Kader zurückgezogen haben. Von ihnen bleibt lediglich Mohamed Chebbi zu der Stunde noch auf seinem Posten. Vor dem Sitz seiner Demokratischen Progressiven Partei kommt es prompt zu Tumulten und erneutem Tränengaseinsatz.
Auch vor der nur wenige Minuten entfernt liegenden Zentrale des Tunesischen Gewerkschaftsverbandes UGTT versammeln sich die Anhänger, hier allerdings zu einer Sympathiekundgebung: Drei ihrer Vertreter haben die ihnen zugeordneten Posten in Ministerien ebenfalls verlassen. »Diese Regierung ist nicht hinnehmbar. Wir sind für das Volk da und nicht für diese alte Garde«, sagt ein Gewerkschafter und erntet viel Beifall.
Zeitgleich fordert die Führung des mächtigen Verbandes bei einer Pressekonferenz dazu auf, für die Übergangszeit den Artikel 57 der Verfassung anzuwenden, der vom »endgültigen Abtreten des Staatspräsidenten« ausgeht. Seit der überstürzten Flucht des Diktators ist offiziell die Rede von Artikel 56, in dem von »vorläufig« die Rede ist. Die Befürchtung, dass Ben Ali seine Rückkehr vorbereitet, greift immer mehr um sich.
Auch das brutale Vorgehen der Polizei ist für die Menschen ein Indiz dafür, dass die Hürde hin zu Meinungsfreiheit und Demokratie noch nicht genommen ist. Zudem hat ein Telefongespräch zwischen Ghannouchi und Ben Ali vom vergangenen Sonntag den Verdacht geschürt, der verjagt geglaubte Despot habe seine Hände nach wie vor im Spiel. »Er und seine Clique haben unser Land ausgeplündert. Vor allem der Clan seiner Frau, die Trabelsis, haben Unsummen beiseite gebracht«, sagt ein Demonstrant. »Und hier, guckt euch das an. Hier ist seit der Franzosenzeit nichts mehr an den Häusern gemacht worden. Sie reden von der Jasmin-Revolution. Das gefällt mir nicht. Es ist die Revolution der Jungen. Die Jungen sind für unsere Freiheit gestorben. Wofür? Mit dieser alten Garde wird sich jedenfalls nichts ändern.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.